
Für Anneliese Dittmar aus Gabolshausen ist Backen mehr als ein Hobby. Es ist ihre Art, Stress abzubauen und Freude zu finden, selbst in schwierigen Zeiten. Mit alten Familienrezepten begeistert sie Freunde und Familie: Die 59-Jährige backt frühmorgens um 4 Uhr genauso wie spätabends um 23 Uhr. Kürzlich hat Dittmar, sie arbeitet als Reinigungskraft, sogar eigens eine Woche Urlaub genommen, um an ihren freien Tagen Plätzchen backen.

Pünktlich zum 1. Advent hatte sie so 60 Plätzchen-Gläser und Dosen mit Gebäck gefüllt: eine Plätzchensorte für jedes ihrer Lebensjahre. Anneliese Dittmar wird am 2. Januar 60 Jahre alt.
Wenn Plätzchen Backen zur Therapie wird
"Plätzchen und Kuchen waren schon immer meine Leidenschaft" verrät die lebenslustige Frau aus dem Grabfeld. Dafür habe sie's nicht so mit Salat. "Ich back' unwahrscheinlich gern." Nirgends könne sie so gut runterfahren wie beim Backen und Bügeln. "Auch wenn ich eine schlechte Nachricht erfahre, muss ich erst mal backen." Wie damals, als es in der Familie eine Krebsdiagnose gab.

Bei der Auswahl der Sorten greife sie auf alte Rezepte, "nicht auf die modischen" zurück. Die schmeckten einfach"anerscht". Viele ihrer Rezepte stammen noch von ihrer Mutter, oder von Müttern ihrer Freundinnen, manche auch aus dem Großeibstädter Kochbuch.

Plätzchen-Leidenschaft mit System: Anneliese Dittmars süßes Ritual
Früher backte sie um die 30 Plätzchensorten pro Weihnachtsfest. Seit ihrem 45. Geburtstag aber folgt ihr Plätzchenbacken einem System. Damals wurde sie im Spaß auf ihren "Geburtstags-Plätzlich-Rekord" angesprochen. Erstmals hat sie daraufhin ihre Plätzchendosen gezählt. "Am 45. nur 44 Sorten?!" Anneliese Dittmars Ehrgeiz war geweckt. "Ab dem 46.", so ihre Ansage, wolle sie jedes Jahr die ihrem Lebensalter entsprechende Sortenzahl Plätzchen backen.

Nicht immer, aber sehr oft, hat sie diesen Vorsatz in den vergangenen 15 Jahren wahr gemacht. Auch in diesem Jahr hielt sie an dem süßen Ritual fest. Seit dem 1. Advent steht immer nach dem Abendessen ein Plätzlesteller mit 60 unterschiedlichen Sorten im Wohnzimmer der Dittmars: Spitzbube neben Terrasse, Spritzgebackenes hinter Tatze, in der Mitte ein Bartplätzchen mit Kokos und das Fruchthäufle. Nicht zu vergessen das Schokoplätzchen à la Konrad, benannt nach Anneliese Dittmars Bruder, der verrückt nach dieser Sorte ist.

Backen als Lebenselixier: Über Perfektion und Makel
"Für uns ist das normal, für andere der Wahnsinn", weiß Tochter Sofia Dittmar und blickt auf einen Teller voller kulinarischer Kunstwerke, bis ins Detail liebevollst gestaltet. Die 29-Jährige und ihr 34-jähriger Bruder Christoph sind das Maß aller Dinge. Schmeckt ihnen eine Sorte, wird die ins Plätzchen-Portfolio von Mutter Dittmar aufgenommen. Selbst die Marzipan-Mandeltaler, die eigentlich Mandelhörnchen werden sollten ("Der Teig war nur total flüssig") schafften es so in Dittmars handgeschriebenes Plätzchenheft.

"Das Schönste sind die Plätzchen, die wir vorher essen dürfen", sagt die Tochter noch im Erwachsenenalter. Weil die Mutter beim Backen "wirklich sehr perfektionistisch" sei, würden Plätzchen mit Makel, die beispielsweise einen Tick zu dunkel sind, sofort aussortiert. Und dürften vorab gegessen werden.
Warum die Back-Tradition ein Jahr lang ruhte
2023 hatte Dittmar ihr Ziel, eine Plätzchensorte pro Lebensjahr zu backen, kurzzeitig aus den Augen verloren. Tochter Sofia (sie liebt Kokos) und deren Freund (er steht auf Rumkugeln) waren dabei, sich im Elternhaus eine Wohnung auszubauen. Weil die Hilfe der Mutter gefragt war, rückte das Backen in den Hintergrund. 2024 nun, wenige Wochen bevor Sofias erstes Kind und Anneliese Dittmars erstes Enkelkind zur Welt kommt, ist die Plätzchenbacktradition aber wieder in vollem Gange.

"Ich freu mich schon das ganze Jahr darauf!", verrät Dittmar: In der zweiten Novemberwoche geht's los mit dem Backen, zum 1. Advent ist alles fertig. "Wenn ich in eine gewisse Stimmung reinkomm', kann ich nicht mehr aufhören." Das weiß auch die Familie: "Die Küche ist dann Mamas Bereich", scherzt Sofia Dittmar. Gemeinsam backt die Familie jedoch nicht. Das "Backfieber" habe sie und ihren Bruder nie wirklich gepackt, gesteht Sofia Dittmar. Allerhöchstens die Fleischwolf-Kurbel für die Spritzgebackenen dreht die Tochter.
Ein Küchentraum aus 60 Plätzchensorten und familiärer Verbundenheit
Was Ehemann Dittmar zu diesem intensiven Hobby sagt? "Der ist auch ein Süßer", sagt Anneliese Dittmar und lacht. Gerhard Dittmar erklärt: "Ich bin zum Nüsse knacken verknackt."
Rund zehn Kilo Mehl würden von ihr jedes Jahr zu Weihnachten verbacken, schätzt Dittmar. Weil die Butterpreise jüngst recht hoch waren, habe sie dieses Jahr erstmals bei einzelnen Sorten auch mit Margarine gearbeitet. Wie hoch die Materialkosten überhaupt bei 60 Plätzchen-Sorten lägen? "Wäre gut, wenn das der Papa net hört", interveniert Tochter Sofia.

Was aber geschieht am Ende mit den vielen Plätzchen? Die Riesenauswahl lässt Freunde und Verwandte jedes Jahr aufs Neue erstaunen. Die werden mit Plätzlestüten und -tellern beglückt, Plätzchen werden auf Weinachten verschenkt und zum Geburtstag serviert. Selbst der Zahnarztpraxis winkt nach der Zahnreinigung zum Dank ein Plätzchen-Teller. Und Anneliese Dittmar selbst? In den Anfangsjahren habe sie nach dem Backen noch regelmäßig gemütlich Glühwein und Gebäck genossen. "Bei 60 Sorten pack' ich das jetzt aber nicht mehr."