Es waren zwölf Gepäckstücke, vier pro Person, die die drei Mitglieder der Familie Obenaus am 25. Mai 1989 in den Zug hievten. Zwölf Gepäckstücke gefüllt mit altem Leben: Mit DDR-Kleidung, mit DDR-Büchern, mit DDR-Kosmetik. Zusammen mit ihren Besitzern, der 18 Jahre alten Conny sowie ihrer Mutter und ihrem Vater, sollten sie in den nächsten Stunden einer noch nie da gewesenen Freiheit entgegenrollen, einem neuen Leben, ohne Mauer, ohne Einschränkung und mit viel Perspektive, einem Leben in der BRD.
Es war der 10. August 1987 an dem die damals 16-jährige Conny Obenaus zusammen mit ihren Eltern den Ausreiseantrag aus der DDR stellte. Bis zu diesem Datum hatte die Teenagerin ein ganz normales Leben geführt. 1970 im Vogtland geboren und im knapp 10 000 Einwohner großen Marktneukirchen aufgewachsen, durchlief sie die verschiedenen Stadien des DDR-Bildungssystems: In der Grundschule trug sie das blaue Halstuch der Jungpioniere, später das rote der Thälmann-Pioniere. Ab der achten Klasse trat sie der FDJ bei. „Der Staat hat viel getan für seine Kinder, ich bin sehr behütet aufgewachsen“, erzählt die heute 43-Jährige. Doch es gab auch die Kehrseite: Wer nicht mitmachte, wurde ausgegrenzt.
Mit 13 Jahren merkte Conny Obenaus zum ersten Mal, dass ihr an der DDR etwas nicht passte. „In unserem Geschichtsbuch ging es darum, dass im Westen kleine Betriebe von Großkonzernen aufgekauft werden“, erzählt sie. „Da habe ich gedacht: Das ist bei uns doch auch so. Nur, dass alles in Staatshand wandert.“ In den folgenden Jahren steigerte sich ihr Widerwille gegen das System der DDR. Mit 15 Jahren beschloss sie, in diesem Staat nicht ihr Leben zu verbringen. „Als meine Eltern mir 1987 eröffneten, dass sie einen Ausreiseantrag für uns stellen wollten, habe ich nur gesagt: Ja bitte! Sofort!“, erinnert sie sich. Einziger Wermutstropfen: Ihre zweieinhalb Jahre ältere Schwester hatte mit 19 Jahren bereits geheiratet. Für sie war an eine Ausreise nicht zu denken.
Dem Rest der Familie blieb nach Antragstellung nur eins: Warten. „Das einfachste in dieser Situation war, den Schein zu wahren und weiterhin mitzumachen, wie gewohnt“, beschreibt Conny Obenaus, die mittlerweile Leimeister heißt. Ihr Vater wurde mit dem Angebot, ins westliche Ausland zu reisen, versucht umzustimmen. Auch sonst stand die Familie nach der Antragstellung spürbar stärker unter Beobachtung.
1988 feierte sie ihren 18. Geburtstag – und musste als Volljährige einen eigenen Ausreiseantrag stellen. Hatte sie beim elterlichen Antrag nur zugestimmt, musste sie nun eigene Gründe aufführen. „Ich habe unter anderem geschrieben, dass es eine Sache der Humanität ist, dass niemand vorgeschrieben bekommt, auf welchem Fleckchen Erde er leben möchte“, erzählt sie. Zudem kritisierte sie die Politik, betonte aber, niemanden missionieren zu wollen.
Und dann hatte das Warten ein Ende: Im April 1989 bekam die Familie Obenaus ihren Laufpass. Darauf stempelten die Ämter ab, dass man weder Besitz noch Schulden in der DDR hinterließ. „Ich verkaufte meine Simson, meine Eltern ihren Dacia“, beschreibt Conny Leimeister. Denn das bedeutete, dass es sich nur noch um Tage handeln konnte. Am 15. Mai bekam ihre Schwester ihr erstes Kind, Conny wurde Tante, ihre Mutter Oma. Für große Gefühle aber war keine Zeit. Neun Tage später bekam die Familie die Info, am nächsten Tag den Zug nehmen zu können.
„Das war ein normaler Reisezug“, erinnert sich Conny Leimeister. Nicht normal waren die Gefühle und Gedanken: „Bleiben wir hier sitzen, bis wir in der BRD sind oder holt uns vorher noch jemand raus?“ Am Grenzübergang zwischen Plauen und Hof blieb der Zug stehen. Die Grenzpolizei kam herein und kontrollierte die Papiere. Danach kontrollierte sie mit Spiegeln die Zugunterseite sowie das Dach, ob sich jemand versteckt hat. „Erst dann fuhren wir weiter“, erzählt Conny Leimeister. Und dann kamen sie: Die beiden Grenzpfähle, der eine blau-weiß, der andere schwarz-rot-gold, dann der Jubel, zum Schluss die Tränen.
Stunden später trank sie auf einem Zwischenstopp im Würzburger Bahnhof ihre erste Coca Cola. „Woran ich mich besonders erinnere, waren die neuen Gerüche auf dem Bahnhof“, erzählt sie. Verschiedene Parfums, frisch gebackene Brötchen aus den Bahnhofsbäckereien, Blumenläden. „Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal richtig zu atmen.“ Weil sie eine Tante in Düsseldorf hatten, landete die Familie nicht in einem Auffanglager, sondern in einem 20 Quadratmeter Appartement in der Stadt am Rhein.
Den Fall der Mauer am 9. November 1989 erlebte sie vor dem Fernsehen. „Ich hatte nie im Leben damit gerechnet. Ich hätte gedacht, dass sie erst einmal die Vorschriften aufweichen, mehr Besuchsreisen genehmigen“, erzählt sie. Vielleicht aber habe man geahnt, dass das Land dann bald leer sei. Für sie persönlich bedeutet der Tag in erster Linie: Zwei Staaten sind wieder ein Land, niemand muss mehr über die Grenze fliehen, der Todestreifen ist weg. Für die Familie Obenaus kam hinzu: Sie konnten Weihnachten in der Heimat im Vogtland zusammen mit der Schwester und dem kleinen Neffen feiern. „Das war Wahnsinn, wir sind davon ausgegangen, dass wir uns vielleicht nie mehr wieder sehen“, erzählt Conny Leimeister.
Mittlerweile ist die 43-Jährige mindestens einmal pro Jahr im Vogtland. Über ihren Mann kam sie in den Landkreis Main-Spessart, zunächst nach Bischbrunn, dann nach Marktheidenfeld. Hier sind ihre beiden Kinder geboren und hier hat sie ihre Erlebnisse in ein Manuskript gefasst. „Meine Wahrheit oder deine“ ist der Titel ihres Buches. Anfang 2015 soll es erscheinen. Conny Leimeister freut sich schon, daraus auch im Vogtland zu lesen. Was sie nach diesen Reisen in den Osten umtreibt? „Es gibt immer noch die, die die DDR vermissen, denn sie hat eine gewisse Geborgenheit vermittelt“, beschreibt sie. Aber gerade an der jungen Generation merkt sie: Das Gefühl, zwei Staaten gewesen zu sein, wächst sich heraus.