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Ostheim
17 Jahre trocken und trotzdem ist jeder Tag eine Herausforderung: Warum ein Rhöner anderen Alkoholabhängigen hilft
Bis heute weiß Reinhold Stäblein nicht genau, warum er zum Alkoholiker wurde. Die Erkenntnis traf ihn hart. Heute betreut er 14 Selbsthilfegruppen für Suchtkranke.
Reinhold Stäblein ist trockener Alkoholiker. Seit knapp 17 Jahren hat der 64-Jährige keinen Alkohol mehr getrunken. Heute hilft er anderen Betroffenen.
Foto: Christoph Weiss | Reinhold Stäblein ist trockener Alkoholiker. Seit knapp 17 Jahren hat der 64-Jährige keinen Alkohol mehr getrunken. Heute hilft er anderen Betroffenen.
Kai Kunzmann
 |  aktualisiert: 25.02.2025 02:36 Uhr

Donnerstagabend. Reinhold Stäblein verlässt sein Haus in Fladungen. Sein Ziel: Das knapp zehn Kilometer entfernte Pfarrhaus in Ostheim. Für ein paar Stunden treffen sich dort Spielsüchtige, Drogenabhängige und Alkoholkranke. "Was in diesem Raum besprochen wird, bleibt auch dort", sagt Stäblein.

Beinahe jede Woche besucht er die Treffen der Selbsthilfegruppe, obwohl der 64-jährige Rentner seit 17 Jahren trockener Alkoholiker ist. "Mir geht es gut, auch wenn ich unheilbar krank bin. Unheilbar krank, weil die Krankheit ganz einfach nicht heilbar ist", sagt Stäblein. Ein Rückfall sei immer möglich.

Heute spricht er offen über seine Alkoholabhängigkeit. Doch das ist nicht immer so. Er braucht Jahre, um zu erkennen, dass er ein Problem hat. Alkohol trinkt Stäblein zum ersten Mal früh in seiner Jugend. Wann genau, weiß er selbst nicht mehr. "Wenn man zur Gesellschaft gehören möchte, gerade in jungen Jahren, da gehört Alkohol einfach dazu", sagt er.

Vom Feierabendbier zum geheimen Alkoholdepot

Seinen Weg in die Abhängigkeit beschreibt er als schleichenden Prozess. Stäblein lernt Kirchenmaler, später arbeitet er im Rettungsdienst. Immer häufiger trinkt er nach der Arbeit. "Der Alkohol hat eine Funktion übernommen. Ich habe getrunken, um runterzukommen und zu vergessen", sagt er.

"Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen."
Reinhold Stäblein über den Moment, in dem er realisierte, dass er ein Problem hat.

Die Sucht bestimmt zunehmend seinen Alltag. Er zieht sich aus dem Familienleben zurück, unternimmt kaum noch etwas mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Irgendwann versteckt er Alkohol sogar bei sich zu Hause. Er stellt sich Fragen wie: Wie viele Feiertage kommen? Habe ich dafür genügend Vorrat? Wie entsorge ich die leeren Flaschen wieder? "Ich nenne das mittlerweile Kriminalität. Man macht sich selbst Stress und klaut sich wertvolle Zeit", sagt er.

Aus Liedern schöpft Reinhold Stäblein Kraft und Motivation. Der Song 'Gut, wieder hier zu sein' von Hannes Wader, Konstantin Wecker und Reinhard Mey läuft regelmäßig bei den Treffen seiner Selbsthilfegruppe.  
Foto: Christoph Weiss | Aus Liedern schöpft Reinhold Stäblein Kraft und Motivation. Der Song "Gut, wieder hier zu sein" von Hannes Wader, Konstantin Wecker und Reinhard Mey läuft regelmäßig bei den Treffen seiner Selbsthilfegruppe.  

Doch Stäblein glaubt an dem Punkt noch, alles im Griff zu haben. Er fehlt keinen einzigen Tag bei der Arbeit und trinkt nach eigener Aussage nie im Dienst. "Rückblickend hatte ich riesiges Glück, dass ich keinen Unfall hatte, nicht von der Polizei angehalten wurde und auch, dass beruflich nichts passiert ist", sagt der 64-Jährige.

Erst als seine Frau und ein Arbeitskollege ihn auf seinen Alkoholkonsum ansprechen, setzt die Erkenntnis ein. "Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen", erzählt Stäblein mit gläsernen Augen. Zu diesem Zeitpunkt ist er 45 Jahre alt.

Alkoholiker-Selbsthilfegruppe in Ostheim wird zu neuem "Stammtisch"

Sein Hausarzt vermittelt ihn an die Caritas, ein Angebot auf Therapie lehnt er aber zunächst ab. "Ich wollte erst mal nur in eine Selbsthilfegruppe gehen", sagt Stäblein. Anfangs geht er vor allem aus Neugierde zur Kreuzbund-Selbsthilfegruppe in Ostheim. "Ich wollte wissen, wie es Jupp, Sepp, Frieda oder Karl geht. Ob jemand Neues kommt", erzählt der 64-Jährige.

Die Selbsthilfegruppe wird zu seinem neuen Stammtisch. Bis er bemerkt, dass die regelmäßigen Treffen helfen, dauert es aber: "Anfangs hat sich nichts getan. Aber nach so einem Vierteljahr, vielleicht auch mehr, habe ich festgestellt, irgendwie tut sich da was."

Drei Jahre später, im Alter von 48 Jahren, macht Reinhold Stäblein schließlich eine Therapie. Sie motiviert ihn, weiter an sich zu arbeiten: "Ich habe gemerkt, nach dem fünften Gang kommt auch noch ein sechster – da rollt noch etwas. Durch die Therapie bin ich allgemein sicherer geworden", erzählt er.

Nach der stationären Therapie muss sich Stäblein neu an den Alltag gewöhnen. "Während der Therapie ist man in einer Käseglocke, danach ist man quasi Freiwild." Das Vertrauen seiner Familie muss er zurückgewinnen. Er schlägt seiner Frau vor, mit in die Gruppensitzungen zu kommen. Sie zögert zunächst, kommt aber schließlich mit, erzählt er. Von da an besuchen sie gemeinsam die Gruppe.

"Während der Therapie ist man in einer Käseglocke, danach ist man quasi Freiwild."
Reinhold Stäblein über die Zeit nach der Therapie

Öffentlich möchte seine Frau nicht darüber sprechen. Dafür sei der geschlossene Rahmen der Selbsthilfegruppen besser geeignet. Stäblein weiß den Einsatz seiner Frau zu schätzen: "Nach der Therapie ist mir erst bewusst geworden, was meine Frau in der Zeit, in der ich getrunken habe, alles geleistet hat. Trotzdem hat sie immer zu mir gehalten. Dafür bin ich ihr verdammt dankbar."

Warum Stäblein nach 17 Jahren immer noch in die Selbsthilfegruppe kommt

Reinhold Stäblein weiß seit 17 Jahren, was es ausmacht, als trockener Alkoholiker zu leben. Diese Erfahrung soll auch anderen Suchtkranken helfen. Seit über zehn Jahren betreut der 64-Jährige ehrenamtlich neben der Selbsthilfegruppe in Ostheim noch 13 weitere Gruppen und ist bei allen anfallenden Problemen und Fragen Ansprechpartner. Warum? "Man muss dranbleiben. Ich glaube, ich habe das Helfersyndrom. Ich habe schon immer geholfen. Wenn einer Hilfe braucht, ich bin da."

Von Stäbleins Engagement profitiert auch der Caritasverband des Landkreises Rhön-Grabfeld. "Wir vermitteln Betroffene an die Selbsthilfegruppen. Und umgekehrt meldet sich Herr Stäblein bei uns, wenn jemand Hilfe braucht", sagt Susanne Till, Leiterin der psychosozialen Beratungsstelle des Caritasverbandes.

Anderen Suchtkranken möchte Stäblein vor allem eines mitgeben: "Es ist nie zu spät, sich einzugestehen, dass man ein Problem hat." Er fühle sich manchmal immer noch als Außenseiter, wenn er kein Alkohol trinkt. Achtsamkeit und Selbstkontrolle seien in diesen Momenten entscheidend, sagt er. Denn eines ist sicher: Stäblein will nie wieder in seine alten Muster verfallen.

 
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Kommentare
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  • Herbert Zorn
    An Herrn Stäblein Hochachtung, echten Respekt und Glückwunsch für das Erreichte!!
    Auf seinen weiteren Lebensweg wünsche ich ihn weiterhin viel Kraft und positive Zuversicht!!
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