Die Rhöner sind zweifellos ein eigenwilliger Menschenschlag. Dass die Menschen hier aber derart heimelig sind, dass sie mit elektrischem Licht nichts anzufangen wissen, diese Mär hat vor über hundert Jahren tatsächlich die Runde gemacht. Gut, dass es eine Riege von Vordenkern gab, die die Rhöner von der modernen Technik nicht abgehängt wissen wollten. Wenn es heute in der Region überall hell wird, sobald der Lichtschalter gedrückt wird, ist das ein Verdienst des Überlandwerks Rhön – dem Unternehmen, das Licht in den dunklen Landstrich gebracht hat.
Vor 100 Jahren wurde das Überlandwerk Rhön (ÜWR) in Fladungen von Kommunalpolitikern aus der Taufe gehoben. Rund um das Versorgungsgebiet hatten sich bereits verschiedene Unternehmen als Stromversorger etabliert. In Thüringen sorgte die TELG (Thüringische Elektrizitätslieferungsgesellschaft, heute TEAG) für glühende Drähte, in Hessen versorgte das Überlandwerk Fulda die Kunden mit Elektrizität. Das ÜW Unterfranken war für die bayerischen Kunden zuständig – bis auf die in der Rhön. Der Landstrich war bis dato im wahrsten Sinne des Wortes ein schwarzer Fleck auf der Landkarte, und das sollte nach dem Willen der Landesfürsten auch so bleiben.
Rhöner nicht bereit für elektrisches Licht?
Von staatlicher Seite war die Empfehlung ausgegeben worden, kein elektrisches Licht ins Dunkel der Rhön zu bringen. "Das würde sich nicht lohnen, denn die Bevölkerung sei noch nicht bereit dazu, hieß es damals", hatte Helmut Grosser, Geschäftsführer des ÜW Rhön, beim Blick in die Firmenchronik kurz vor dem 85-jährigen Bestehen des Überlandwerks ausgemacht. Gut, dass die örtlichen Kommunalpolitiker aufgemuckt haben: 1920 hat das elektrische Licht dann doch auch den Weg in die Rhön gefunden. Über die Landesgrenzen hinweg haben bayerische, thüringische und hessische Gemeinden solidarisch zusammen gestanden und gemeinsam das nötige Kapital aufgebracht, um die Gesellschaft zu gründen.
47 Gemeinden des bayerischen Bezirks Mellrichstadt, des damals preußischen Kreises Gersfeld, des weimarischen Verwaltungsbezirks Dermbach und des thüringischen Kreises Meiningen beteiligten sich an der Gründung des zu 100 Prozent kommunalen Stromversorgers. Diese Leistung der Gründerväter sollte eigentlich in diesen Tagen groß gefeiert werden. Doch die Corona-Krise machte dem Überlandwerk einen Strich durch die Rechnung: Der Kommersabend im Fränkischen Freilandmuseum wurde abgesagt, die Ausstellung mit dem Titel „Strom für die Rhön – Überlandwerk Rhön 1920-2020“, die ebenfalls im Museum gezeigt werden soll, liegt auf Eis, bis das Freilandmuseum in dieser Saison die Pforten öffnen kann.
Zusammenhalt wird im Unternehmen groß geschrieben
In diesen vom Coronavirus geprägten unsicheren Zeiten setzt das Überlandwerk auf eine Erfolgsstrategie, die sich im vergangenen Jahrhundert vielfach bewährt hat: den Zusammenhalt und das gegenseitige Mit- und Füreinander, gepaart mit dem uneingeschränkten Rückhalt der Gesellschafter, sprich: den Landkreisen, Städten und Gemeinden im Versorgungsgebiet.
Zu Spitzenzeiten gab es beim Überlandwerk Rhön über 130 Gesellschaftergemeinden, heute sind es, bedingt durch Gebietsreform und Eingemeindungen, 48 rein kommunale Gesellschafter, inklusive der Landkreise Rhön-Grabfeld und Fulda. Nicht Gewinnmaximierung, sondern Ausbau und Erhalt der Infrastruktur sowie die stete Versorgung der Bevölkerung mit Strom, Installationen und Geräten standen und stehen auch heute noch im Vordergrund des unternehmerischen Handelns. Dazu gehörten neben Bau und Unterhalt des Stromnetzes seit jeher der eigene Elektroinstallationsbetrieb für Haushalte, Gewerbe und Landwirtschaft bis hin zu Industrieunternehmen sowie der Verkauf elektrotechnischer Waren in den hauseigenen Fachgeschäften in Hilders und Bischofsheim.
An den Landesgrenzen wurde es dunkel
Eine große Herausforderung galt es Anfang der 1950er-Jahre im Zuge der Grenzschließungen zu meistern. 1952 wurden die Stromleitungen zwischen den thüringischen sowie den bayerischen und hessischen Gesellschaftergemeinden im Netzgebiet des ÜWR gekappt. Die politische Entwicklung in Deutschland sorgte dafür, dass das kommunale Stromversorgungsunternehmen in der Rhön auseinandergerissen wurde. Ein Schock für alle Gesellschaftergemeinden, die Mitarbeiter und natürlich auch die Kunden des Unternehmens. Denn an den Landesgrenzen saßen die Bewohner der bayerischen und hessischen Gemeinden des ÜWR plötzlich im Dunkeln. Bisher kam der Strom für alle Kunden nämlich aus dem thüringischen Kohlekraftwerk in Breitungen an der Werra. Doch das Unternehmen stemmte auch diese Herausforderung, schnell wurde eine neue Stromversorgung in Bayern und Hessen auf die Beine gestellt.
Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze im Jahre 1989 nahm die Geschäftsführung des Überlandwerks den Kontakt zu den thüringischen Gesellschaftern wieder auf. "In den 40 Jahren der Unternehmensteilung hatten wir die nicht mehr erreichbaren Orte der thüringischen Rhön nicht vergessen", teilte das Unternehmen unter Geschäftsführung von Helmut Grosser mit. So wurden in den Jahren der Teilung auf dem Briefkopf des ÜWR die ehemaligen thüringischen Standorte des Unternehmens weiter mit aufgeführt, jedoch mit dem textlichen Zusatz "derzeit unserer Verwaltung entzogen".
Stromtechnische Wiedervereinigung
Stets bestrebt, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen, ergriff das Unternehmen die Gelegenheit, die die Wende bot, beim Schopf. Nun stand die nächste Herausforderung auf der Tagesordnung: die Ertüchtigung und teilweise Erneuerung des thüringischen Netzgebietes. So wurde in wenigen Jahren der Großteil der Investitionen in den thüringischen Netzanlagen getätigt. Wie zur Gründungszeit zogen alle Gesellschafter und Mitarbeiter an einem Strang. Es ging wiederum nur um die Gemeinschaft und den Zusammenhalt in der Rhön. "Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist das Netzgebiet nun wieder vereint, und der Strom kann zwischen den Rhönorten unabhängig von Landesgrenzen fließen", informierte Wolfgang Pfeiffer, Abteilungsleiter Stromvertrieb und –beschaffung, im Jahr 2018 mit Blick auf die stromtechnische Wiedervereinigung.
Der Zusammenhalt der Gesellschafter zeigte sich 2018 auch bei der Neuvergabe der Konzessionsverträge, die nur alle 20 Jahre vergeben werden. Alle versorgten Gesellschaftergemeinden schlossen neue Konzessionsverträge mit dem ÜWR und stellten damit die Stromversorgung im Altlandkreis Mellrichstadt für die nächsten 20 Jahre sicher. Das Fundament für die Fortführung des Unternehmens in den kommenden Jahrzehnten.
Helmut Grosser hat das Netz auf Vordermann gebracht
Helmut Grosser, Geschäftsführer des Überlandwerks, hat das Unternehmen in den vergangenen 27 Jahren stetig weiterentwickelt. Am 1. April 1993 war er als neuer Technischer Leiter zum Unternehmen gekommen, seit über 18 Jahren steht er nun schon an der Spitze des kommunalen Stromversorgers. Insgesamt wurden in der Ära Grosser bislang rund 120 Millionen Euro in die netztechnischen Anlagen des mit rund 1200 Quadratkilometer sehr weitläufigen Versorgungsgebiets investiert, gab das ÜW zum 25. Dienstjubiläum bekannt.
Die 100-Jahr-Feier des Unternehmens Ende März 2020 sollte die glänzende Entwicklung und Erfolgsgeschichte des ÜWR widerspiegeln. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sobald es die allgemeine Lage zulässt, wird ein neuer Termin für die Ausstellungseröffnung im Freilandmuseum Fladungen bekannt gegeben. Und für den 27. September ist ein Tag der offenen Tür auf dem Gelände des Überlandwerks in Mellrichstadt geplant.