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Uettingen
"Wir rannten um unser Leben": Die Uettingerin Lore Geiger erinnert sich an die Würzburger Bombennacht vor 80 Jahren
Die 89-Jährige lebte vor dem Angriff mit ihrer Familie in der Würzburger Innenstadt. Im Gespräch erinnert sie sich an den Schrecken, als sie ihre jüngeren Brüder im Tumult aus den Augen verlor.
Lore Geiger erlebte als Neunjährige die Zerstörung von Würzburg am Abend des 16. März 1945. Indem sie Schülerinnen und Schülern vom Leid des Krieges erzählt, kämpft sie gegen das Vergessen.
Foto: Corinna Behr | Lore Geiger erlebte als Neunjährige die Zerstörung von Würzburg am Abend des 16. März 1945. Indem sie Schülerinnen und Schülern vom Leid des Krieges erzählt, kämpft sie gegen das Vergessen.
Elisabeth Streitenberger
Elfriede Streitenberger
 |  aktualisiert: 21.03.2025 02:38 Uhr

Am 16. März 1945 erlebte Würzburg eine der schlimmsten Nächte seiner Geschichte. Innerhalb von nur 20 Minuten wurde die Innenstadt durch britische Bomber fast vollständig zerstört. Über 4000 Menschen starben. Lore Geiger, geborene Büttner aus Uettingen war damals neun Jahre alt und mittendrin im Bombenangriff. Sie lebte mit ihrer Mutter Auguste und ihren Brüdern Dieter (6) und Gerhard (3) in der Innenstadt zwischen Dom und Residenz. Ihr Vater war im Krieg.

"Es war ein sonniger Freitag", erinnert sich die heute 89-Jährige. "Am Nachmittag war ich noch mit meiner Freundin Rollschuh fahren." Doch als am Abend die Sirenen heulten, änderte sich alles. Die Mutter nahm den stets gepackten Notfallkoffer, mit Papieren, Geld und Kleidung und eilte mit den drei Kindern zum Luftschutzkeller der Zentralschule. Die Schule war längst geschlossen und diente als Lazarett für verwundete Soldaten.

Außerhalb des Luftschutzkellers herrschte Chaos

Lore Geiger (links) mit ihren beiden Brüdern Gerhard und Dieter. Ihr Onkel Hans Büttner war Fotograf und hat die Kinder oft fotografiert. Das Bild entstand im Oktober 1943 und ist eines der wenigen Erinnerungsstücke der Familie.
Foto: Hans Büttner (Archivfoto) | Lore Geiger (links) mit ihren beiden Brüdern Gerhard und Dieter. Ihr Onkel Hans Büttner war Fotograf und hat die Kinder oft fotografiert.

Der Keller sei voll gewesen mit Verwundeten, Nachbarn und Schutzsuchenden, berichtet Geiger. Dann begann der Angriff. "Wir saßen zu Füßen unserer Mutter, und sie legte die Arme schützend um uns. So verharrten wir, als die ersten Bomben einschlugen, die Erde bebte." Nach etwa 20 Minuten war es plötzlich still. Doch die Ruhe war trügerisch. Der Luftschutzwart befahl, den Keller sofort zu verlassen, da Feuer und Rauch die Luft vergifteten. Am Ausgang schlugen ihnen Flammen entgegen. Die Hitze war unerträglich. Ein Notausstieg führte sie in den Schulhof – direkt ins Chaos.

"Überall brannte es, die Hitze nahm uns fast die Luft zum Atmen."
Lore Geiger über die Situation in Würzburg nach dem Bombenangriff

"Es war ein fürchterliches Durcheinander", erinnert sich Geiger. "Überall brannte es, die Hitze nahm uns fast die Luft zum Atmen." Der Teer auf dem Schulhof schmolz, ihre Schuhe blieben fast kleben. Geiger trug den Koffer, ihre Mutter hatte die beiden Brüder. Ein Soldat half, den jüngsten Bruder zu tragen, doch irgendwann verloren Geiger und ihre Mutter die beiden jüngeren Brüder in der Menge aus den Augen.

Zusammen mit ihrer Mutter rannte sie über die Kettengasse in Richtung Hofgarten. Den Koffer hatte Geiger im Chaos des Schulhofs verloren – nun hatten sie nichts mehr außer der Kleidung am Leib. "Wir rannten um unser Leben", beschreibt sie ihre damalige Furcht. Im Frankoniabrunnen am Residenzplatz tauchte die Mutter eine Decke ins Wasser, mit der sie sich etwas schützen konnten.

Ein Bruder taucht wieder auf, doch der jüngste bleibt zunächst verschwunden

"Es war unbeschreiblich. Ich sah, wie Menschen in den Flammensturm gerissen wurden", erzählt Geiger. Die Feuerwirbel erfassten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Im Hofgarten fanden sie wie durch ein Wunder Dieter wieder. Der Luftschutzwart des Residenzkellers rief ihnen zu, sie sollten in den Keller der Residenz flüchten. Sie drängten sich mit Hunderten anderen in den überfüllten Raum. "Es war so voll, dass niemand sich setzen konnte."

Lore Geiger geborene Büttner mit ihrer Mutter Auguste Büttner und den Brüdern Dieter und Gerhard im Oktober 1945. Das Foto machte ihr Onkel Hans Büttner, der Fotograf und ebenfalls ausgebombt war.
Foto: Hans Büttner (Archivfoto) | Lore Geiger geborene Büttner mit ihrer Mutter Auguste Büttner und den Brüdern Dieter und Gerhard im Oktober 1945. Das Foto machte ihr Onkel Hans Büttner, der Fotograf und ebenfalls ausgebombt war.

Am nächsten Morgen traten sie aus dem Keller in eine verwüstete Stadt. "Unser Zuhause war nur noch ein Schutthaufen. Nur ein einzelner Rollschuh ragte aus den Trümmern." In all dem Chaos galt die Sorge dem kleinen Gerhard, den die Familie immer noch nicht gefunden hatte. Sie suchten in Kellern, liefen von Luftschutzkeller zu Luftschutzkeller, kletterten über Schutthaufen, denn Straßen gab es keine mehr. Die Innenstadt war ein einziger Trümmerhaufen.

Doch der kleine Junge blieb verschwunden. In einem Keller fanden sie die Freundin von Lore und ihre Mutter – sie waren tot. Nach einer weiteren Nacht und einem Tag voller Suche nach dem Bruder wurden sie zum Leichensammelplatz am Mainufer geschickt. Verkohlte Körper lagen dort – Männer, Frauen, Kinder. "Wir hatten Angst, ihn dort zu finden", sagt Geiger. Doch Gerhard war nicht dabei. Dann wurden sie aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Ein Bauer mit seinem Pferdefuhrwerk brachte sie nach Uettingen.

Die Mutter war fast krank vor Sorge um ihren Jüngsten. Dann kam die erlösende Nachricht: Eine Frau aus Würzburg erinnerte sich an einen kleinen Jungen, der nach Unterdürrbach evakuiert worden war. Geigers Mutter machte sich sofort zu Fuß auf den Weg. Und tatsächlich – sie fand ihren jüngsten Sohn. Seine blonden Haare waren verbrannt, er hatte seit Tagen kein Wort gesprochen. Doch als er seine Mutter sah, sagte er leise: "Mama, Schutzengel kommt." Bis heute hat Gerhard nie über das Erlebte in den Tagen nach dem Bombenangriff gesprochen.

Ein neues Leben in Uettingen

Lore Geiger fand mit ihrer Familie in Uettingen eine neue Heimat.
Foto: Corinna Behr | Lore Geiger fand mit ihrer Familie in Uettingen eine neue Heimat.

Die Familie wurde nach Uettingen evakuiert, schlief zuerst im Kindergarten, später in der Schule. Das Rote Kreuz versorgte die Flüchtlinge mit Essen. Die Mutter fand Arbeit bei einem Bauern und wurde mit Naturalien bezahlt – so mussten sie nicht hungern. Wir wurden sehr freundlich in Uettingen aufgenommen und fanden Freunde, die sie ihr Leben lang begleiteten. Als die Amerikaner einige Tage später in Uettingen einmarschierten, fürchteten sie das Schlimmste. Doch die Soldaten suchten nur die verbliebenen Männer und nahmen sie gefangen.

Nach Kriegsende kehrte Geigers Vater 1949 aus der Gefangenschaft zurück. Die Normalität kehrt in das Leben der Familie Büttner zurück. Die Kinder konnten weiter zur Schule. Danach besuchte Geiger die kaufmännische Schule, lernte Stenotypistin und zog 1953 mit ihrer Familie zurück nach Würzburg. Zwei Jahre später heiratete sie ihre Jugendliebe Hermann Geiger aus Uettingen, baute mit ihm in Würzburg ein Fußbodenleger-Geschäft auf und zog 1967 mit ihrem Mann und den vier Söhnen nach Uettingen zurück.

"Wir können nur hoffen, dass so etwas nie wieder geschieht."
Lore Geiger hofft, dass ihre Geschichte zu einer Zukunft ohne Krieg beiträgt.

"Die Erinnerung bleibt, aber das Leben hat mir eine wunderbare Familie geschenkt, das ist ein großes Glück." Noch heute ist Geiger aktiv im Geschäft, das in dritter Generation geführt wird. "Es war eine schlimme Zeit", sagt sie. "Damals, nach der Bombennacht, wurde ich von einem Tag auf den anderen erwachsen." "Wir können nur hoffen, dass so etwas nie wieder geschieht." Ihre Geschichte wurde in einem YouTube-Video aufgezeichnet, als sie vor der dritten Klasse der Astrid-Lindgren-Schule in Helmstadt von ihren Erlebnissen am 16. März 1945 erzählte.

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Trotz dieser schlimmen Erlebnisse sprüht Lore Geiger auch mit 89 Jahren noch vor Lebensfreude. Wir mussten damals lernen, mit unseren Ängsten zu leben. Durch die viele Arbeit hatten wir wenig Zeit nachzudenken. Der Hunger nach Leben hat uns in den Frieden getragen.

 
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