
Dem 33-jährigen Najibullah D. ist die Sache noch nicht ganz geheuer. Er hat in Afghanistan acht Jahre lang für die Bundeswehr gedolmetscht, danach noch mehrere Jahre für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Seit knapp eineinhalb Jahren lebt er mit seiner Familie in Rechtenbach. Hätten die Taliban ihn und seine Frau Sahar Rahimy D., die sieben Jahre für die private Hilfsorganisation CARE International gearbeitet hat, erwischt, hätten sie ihn kaltgemacht, ist er sich sicher. Vor allem weil er für die Bundeswehr gearbeitet hat, möchte er auf Fotos nicht erkennbar sein, sein Nachname soll abgekürzt werden. Die beiden erzählen von ihrem früheren Leben und wie sie sich vor den anrückenden Taliban verstecken mussten.
Man sollte meinen, als Dolmetscher für die Bundeswehr hätte der 33-Jährige schon lange Deutsch gekonnt. Aber da geht man fehl. "Mit Deutschen mussten wir immer Englisch sprechen", sagt er. Er stammt aus Masar-i Scharif, der drittgrößten Stadt Afghanistans. Im dortigen Feldlager der Bundeswehr seien auch Soldaten aus anderen Nato-Ländern stationiert gewesen, weswegen dort Englisch gesprochen wurde. Sein inzwischen ganz passables Deutsch hat er sich in gut einem Jahr beim Integrationskurs in Lohr angeeignet. Weil sie zunächst keinen Kindergartenplatz für ihre beiden Kinder bekamen, begann seine Frau Sahar, 27, sogar erst im Oktober Deutsch zu lernen. Aber auch seine Frau lernt offensichtlich schnell, nur manchmal muss ihr Mann beim Besuch des Reporters helfen. Ihre beider Muttersprache ist Dari (Persisch), während die Taliban meist zu Paschtunen zählen und Paschto sprechen.
Beide haben Jura studiert. Ihre Eltern sind gebildete Leute. Der Vater von Sahar etwa ist Arzt. Als Dolmetscher für die Bundeswehr habe er 1000 Dollar im Monat verdient, für Afghanistan eine Menge Geld, erzählt Najibullah. "Ich war reich." Jetzt sei es schwer für ihn und seine Frau, auf Geld vom Jobcenter angewiesen zu sein und hier weder als afghanischer Jurist noch als Dolmetscher arbeiten zu können. Ihr altes Leben gehört der Vergangenheit an, in Deutschland müssen sie ganz von vorne anfangen. Im selben Haus in Rechtenbach wie die Eheleute D. wohnt auch der frühere Hausmeister des Bundeswehrlagers samt Frau und fünf Kindern. Najibullah kennt ihn von früher.

"Die deutschen Soldaten waren sehr nett zu uns", erzählt er. Er habe bei der Ausbildung afghanischer Soldaten Schulter an Schulter mit diesen gestanden, um zu dolmetschen, etwa am Schießstand. Er sei bei Einsätzen am Tag wie in der Nacht dabei gewesen, sei mit in Panzern gesessen oder auch im Hubschrauber. Vieles, was er erlebt und erfahren habe, dürfe er auch heute noch nicht verraten. Was er sagen darf: Er habe gelernt 20 deutsche Gerichte zuzubereiten – Jägerschnitzel, Wiener Schnitzel, Gyrosteller. Bei Putenschnitzel mit Pommes und Jägersoße gerät er ins Schwärmen. Seine Frau ist der deutschen Küche gegenüber noch etwas reserviert, gibt sie zu, während ihr vierjähriger Sohn eine Brezel reinhaut und auch mit seinen Eltern immer wieder Deutsch spricht.
Sahar sagt, sie habe mit Amerikanern Bildungsprojekte mit Frauen in verschiedenen Provinzen durchgeführt, die die Afghaninnen fit für den Arbeitsmarkt machen sollten. Dabei seien sie auch in Dörfer gekommen, aber nicht überall hätten die afghanischen Männer, denen zu viel Selbstständigkeit für ihre Frauen nicht geheuer war, ein Projekt zugelassen. Manchmal habe Überzeugungsarbeit geholfen, aber nicht immer.
Als die Taliban anrückten, mussten sie weg
Najibullah erzählt, dass sie ihr Heimatland eigentlich nicht hätten verlassen wollen. In der Flüchtlingskrise 2015/16 etwa sei das noch kein Thema gewesen. Erst als sich die Bundeswehr 2021 zurückzog und die Taliban das Land Stück für Stück zurückeroberten, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Jetzt war klar: Wer den Ausländern geholfen hatte, musste das Land verlassen. Sie flohen im Juli 2021 in die Großstadt Kabul, wo keine Nachbarn sie kannten und sie an die Taliban hätten verraten können. Sie wohnten zunächst in einem Wohnheim für Ortskräfte der Bundeswehr, wo sie auf Ausreisepapiere warteten. Seine Frau sagt, sie habe die hygienischen Zustände dort nicht lange ausgehalten, weshalb sie zu ihren Großeltern, die in Kabul wohnen, gezogen seien.
"Wir dachten, Kabul wird nicht schnell an die Taliban gegeben", sagt Sahar. Aber die Familie sei kaum in Kabul gewesen, da seien die Taliban angerückt. Vom Fenster aus konnten sie die bärtigen neuen Machthaber sehen. Auch Najibullah, der sonst höchstens Dreitagebart trägt, ließ sich einen Bart wachsen. Nach draußen trauten sie sich nicht, sie hatten nur ein Zimmer. Vor allem für ihre kleinen Kinder eine schwere Zeit. Die Großeltern und andere Verwandte von Sahar kauften für sie ein.
Im November 2021 schließlich konnten sie mit einem katarischen Visum ausreisen, durften aber in den 14 Tagen in Katar wieder nicht nach draußen, sondern waren in Quarantäne. Schließlich wurden sie mit drei weiteren Familien in einem Flieger, in dem sonst nur Deutsche saßen, nach Hannover ausgeflogen. Der Afghane erzählt, dass er sich habe raussuchen dürfen, in welchen Teil Deutschlands er möchte. Weil schon eine Tante und eine Cousine in Würzburg waren, gab er Würzburg an. Schließlich kamen sie jedoch nicht nach Würzburg, sondern nach Rechtenbach. Dort leben sie etwas in Warteposition. Kontakt zu Einheimischen hat die aufgeschlossene Familie bisher kaum bekommen, außer zu einem netten älteren Nachbarn, den die Kinder Opa nennen.
In Rechtenbach geht ohne Bus nichts, aber am Wochenende fährt kein Bus
Sie seien immer auf den Bus angewiesen, auch ihre siebenjährige Tochter Armaghan, die mit dem Bus zur Schule nach Lohr muss. Najibullah hätte innerhalb der ersten sechs Monate seinen afghanischen Führerschein gegen einen deutschen tauschen können, aber es hätten noch Papiere gefehlt. Jetzt muss er ihn ganz neu machen, aber zuletzt hätten örtliche Fahrschulen keinen freien Platz gehabt. Da ihre Wohnung auf Dauer zu klein sei und weil in Rechtenbach am Wochenende kein Bus fahre – das mit dem Rufbus habe noch nie funktioniert –, suchen sie momentan eine Wohnung in Lohr, Markheidenfeld oder Karlstadt. Bislang verbringen sie ihre Wochenenden mit Deutschlernen und Hausaufgaben.

Seine Familie ist bis auf eine Tante in Kabul komplett in alle Winde zerstreut. Eltern und eine Schwester wohnen in Kanada, drei Onkel schon lange in den USA, einer in den Niederlanden, die beiden weiteren Schwestern in Deutschland. Sahars Familie ist fast gänzlich noch in Afghanistan. Ihre jüngere Schwester habe im letzten Semester Jura studiert, als die Taliban die Macht übernahmen und sie abbrechen musste. "Jetzt dürfen Mädchen nicht mehr in die Schule gehen", sagt sie. Mädchen über 14, auf dem Dorf ab 12, müssten sich verschleiern. Sahar selbst trägt ihr Kopftuch eher locker, trägt dazu ein Deutschland-Trikot. Viele afghanische Frauen, sagt sie, trügen in Deutschland gar kein Kopftuch, genössen die Freiheit.
Wie sie sich ihre Zukunft in Deutschland vorstellen? Die Juristin würde gern Fahrkartenkontrolleurin werden, weil sie glaubt, dass man da angesehen und immer ordentlich gekleidet sei. Er sagt, er möchte Deutschland etwas zurückgeben und auf eigenen Beinen stehen, gern würde er wieder als Dolmetscher arbeiten, weiß jedoch, dass das in Deutschland schwer wird. Wichtig ist ihnen, dass ihre Kinder ein gutes Leben führen können und ihre Tochter keinen Hidschab tragen muss.