"Das ging so schnell", sagt Noella Bordin mit ihrem starken, aber charmanten italienischen Akzent. Fast kann es die 76-Jährige nicht glauben, dass es schon 50 Jahre her ist, als sie mit ihrem Mann Sergio die erste Eisdiele in Marktheidenfeld eröffnete. Das genaue Datum im Jahr 1969 weiß sie nicht mehr, "irgendwann Anfang oder Mitte Februar".
Die deutsche Geschichte Noella Bordins begann viele Jahre zuvor, als ihre Tante sie 1952 von ihrem Gebortsort Conegliano in der Nähe von Venedig mit nach Marburg in Deutschland nahm, ein kleiner Karton als Koffer war ihr einziges Gepäck. "Ich war gerade mit der Schule fertig, noch ein kleines Mädchen, und in Italien gab es nach dem Krieg keine Arbeit", sagt Noella Bordin. In einem Ort bei Marburg arbeitete sie in der Eisdiele ihrer Onkel und Tanten. Mit 14 Jahren, wie sie erzählt, "eröffnete" sie ihre erste Eisdiele im hessischen Büdingen. Für offizielle Unterschriften war ihr älterer Bruder zuständig, aber die Organisation lag bei der jungen Noella – sie war die einzige, die Deutsch konnte.
Angst vor den Deutschen
Abgesehen von den Besatzungsmächten gab es so kurz nach dem Krieg nur wenige Ausländer in Deutschland. Wie hat Noella Bordin diese Zeit erlebt? "Es war ein wenig komisch zwischen Deutschen und Italienern", sagt sie. Ihre Familie übernachtete lieber zusammen in der Eisdiele, aus Furcht vor den Deutschen; der Weltkrieg wirkte hier noch nach. Allerdings im Nachhinein ohne Grund. "Es ist nie etwas passiert", sagt Noella Bordin, "aber so war das halt."
Glücklich war Noella Bordin in Deutschland aber nicht. 1966 ging sie zurück nach Italien, nach Deutschland wollte sie nie wieder. "Ich habe meinen Pass und meinen Koffer weggeschmissen", erinnert sie sich heute lachend. In Italien heiratete sie ihren Mann Sergio, damals ein Kaffeevertreter. Gut zwei Jahre blieb das Paar in Conegliano. "Dann hieß es, wir fahren nach Deutschland, ich bleibe nicht daheim. Es war mir zu langweilig, es gab nichts zu tun."
Das Gasthaus "Zur Krone" wird zum Eiscafé
Über einen Makler suchten sie eine passende Lokalität für eine Eisdiele, irgendwo zwischen Frankfurt und Würzburg. In Würzburg kannte das Ehepaar schon einige Eisdielen-Besitzer. "Die Würzburger Eiscafés Venzia, Dolomiti oder das Benito, die Familien stammten alle aus Conegliano", erklärt Noellas Tochter Barbara.
In Marktheidenfeld fand der Makler passende Räume, im vorderen Teil des ehemaligen Gasthauses "Zur Krone", dessen Kronen-Schild bis heute noch an der Hauswand in der Mitteltorstraße hängt. Dem Ehepaar gefielen die Räume, die Stadt ebenso und so wurden die Bordins für die kommenden 50 Jahre ein Teil des Marktheidenfelder Stadtlebens. Teilweise waren die alten Räume bereits umgebaut, den Rest erledigte die Familie selbst.
"Ganz schön angenommen"
Und dann eröffnete im Februar 1969 die erste Eisdiele Marktheidenfelds. "Für manche hier war es das erste Mal, dass sie Eis gegessen haben", erinnert sich Noella Bordin. Zehn Pfennig kostete die Kugel, die allerdings auch kleiner war als heute, und sehr viele Sorten gab es auch nicht. Ein paar Ausländer habe es damals es schon in Marktheidenfeld gegeben, aus der Türkei oder aus Griechenland. "Wir waren aber die ersten Italiener in Marktheidenfeld", sagt die Mutter, "und sie haben uns ganz schön angenommen." Die Bordins wurden von den Marktheidenfeldern gleich mit in das Stadtleben genommen, "Bräustüble, Laurenzi, da waren wir gleich dabei."
Anfang der 70er war das Venezia ein beliebter Treffpunkt der Marktheidenfelder Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eine Musicbox stand in der Ecke, es gab Eis und Milchshake, "hier war es eigentlich immer richtig voll". Tochter Barbara kam 1972 in Italien zur Welt. Dort blieb auch ihre Mutter erst einmal und Vater Sergio führte das Venezia alleine. "Er konnte nicht gut Deutsch", erzählt Barbara Bordin, "aber er kam zurecht."
Kein Prosecco, kein Aperol, kein Grappa
"Es gab am Anfang fast nur Eis in der Eisdiele", sagt die Tochter. Kein Prosecco, kein Aperol, kein Grappa ging über die Theke. Das sei alles erst später gekommen. Zu Trinken gab es nur Milchshakes und Kaffee. Deutschen Kaffee. "Espresso haben die damals gar nicht gekannt", lacht Mutter Noella, "und später den Cappuccino wollten sie am Liebsten mit Sahne", ergänzt Barbara die Erzählung aus der Vorzeit der italienischen Kaffeekultur in Deutschland. Den Stolz der Eiscafé-Besitzer verletzte das nicht. "Das hat den Gästen geschmeckt, sie waren glücklich, also war ich auch glücklich", sagt Noella Bordin.
Was man sich auch kaum vorstellen kann: es gab lange Zeit kaum Außengastronomie. In den 90ern wurde die Mitteltorstraße gepflastert, sagt Barbara Bordin, "und dann hatten wir Stühle und Tischen draußen. Wir waren ziemlich die ersten in Marktheidenfeld, vorher gab es das nicht, nur in Biergärten."
Party in den Kneipen nach Feierabend
Aufgewachsen ist Barbara Bordin zuerst vor allem in Italien, in den italienischen und deutschen Sommerferien war sie aber in Marktheidenfeld. 1990 zog sie hierher. "Das war langweilig für mich ohne Eltern in Italien", sagt sie, "in den letzten Jahren war ich auch im Internat oder bei der Tante – das war mir dann zu blöd." Seit sie 18 Jahre alt war, arbeitete sie im Eiscafé Venezia. "Das war für mich hier ein Spiel. Da war ja jeden Abend nach der Arbeit Party." In den 90er Jahren gab es viele Kneipen in der Stadt, es sei immer was los gewesen. Und auch wenn sie jedes Jahr in der Winterzeit für zwei Monate nach Italien verschwindet: "Ich lebe die meiste Zeit hier", sagt sie, "ich fühle mich als Marktheidenfelderin".
2003 bis 2005 war die Familie Bordin nicht in Marktheidenfeld; sie hatten das Eiscafé verpachtet. Der erste Anstoß dafür kam von Vater Sergio. Einige befreundete Italiener aus Würzburg zogen zurück in die Heimat, und als sich ein Pächter für das Venezia meldete, schlug die Familie zu. Doch nach drei Jahren war die Sehnsucht nach Marktheidenfeld zu groß, auch das Venezia lief unter der fremden Herrschaft nicht gut. "Wir haben es heruntergekommen zurück bekommen", sagt die Tochter, "und mussten erst mal renovieren." 2007 starb Sergio Bordin, Mutter und Tochter betreiben das Eiscafé seitdem alleine, unterstützt von zwei bis drei Mitarbeitern. Zuletzt umgebaut wurde das Venezia im Jahr 2010. Zufrieden in Marktheidenfeld ist Barbara Bordin nach wie vor, "von mir aus kann es so weitergehen", sagt sie.