
Pünktlich auf die Minute, eine gelbe Kladde unter dem Arm, die Brille im Etui in der Hand, so erscheint Ludwig Keller zum verabredeten Termin. Und, wäre er es nicht 11 Uhr vormittags, man könnte meinen, er sei auf der Durchreise zur Stadtratssitzung.
Rund 600 Sitzungen und 300 Ausschüsse bilanzierte Bürgermeister Thomas Stamm, hat der 79-Jährige in seinen 34 Jahren als Stadtrat in Marktheidenfeld miterlebt, mitgestaltet, zugehört, diskutiert, geschimpft und gelacht. Mitte Januar hat er das Gremium auf eigenen Wunsch verlassen. Mit 80 Jahren wolle er nicht mehr im Stadtrat sein, das habe er sich immer gesagt – und jetzt auch umgesetzt.
Keine Entscheidungen mehr treffen, dafür auch nicht mehr an der Quelle
Ein bisschen Wehmut aber schwingt kurz nach seiner Verabschiedung mit. Einerseits sei er froh, nicht mehr in der Verantwortung zu stehen, Entscheidungen treffen zu müssen. "Andererseits bin ich jetzt auch nicht mehr an der Quelle", sagt er und lacht.
Allerdings sei er als Vorstand bei proMAR immer noch gut beschäftigt. Die Kommunalwahl 2026 stehe in den Startlöchern. "Wir wollen ein gutes Team aufstellen. Keine Zeit, die Hände in den Schoß zu legen", sagt er.
Wehmut: Weniger wegen der Politik, mehr wegen der Menschen
Von 100 auf 0 – das sei zudem keine gute Idee. Schon 2008, als er aus dem aktiven Schuldienst austrat, Keller leitete zuletzt die Fachoberschule Aschaffenburg, sei er dankbar um die Arbeit in der Kommunalpolitik gewesen.
Damit nun auch aufzuhören, das falle ihm schon schwer. Vor allem wegen der Menschen. Der herzliche Abschied in seiner letzten Stadtratssitzung habe ihn sehr gerührt. "Es hat sich angefühlt wie: Der Vater verlässt die Familie", erzählt er scherzhaft. Wobei er für manche vom Altersabstand schon eher "Opa" gewesen sei.
Erst Realschule, dann FOS Marktheidenfeld
Wie der junge Ludwig Keller überhaupt zum Stadtrat kam? Geboren und aufgewachsen in Miltenberg, kam er 1972 als Lehrer an die Realschule nach Marktheidenfeld. 1973 wechselte er an die FOS Marktheidenfeld. 1985 trat er bei den "Freien Bürgern" Marktheidenfeld ein, die sich später in "Freie Wähler" umbenennen.
"Um für die Schule nach Praktikumsplätzen zu fragen, bin ich damals ins Rathaus gegangen", erinnert er sich. Heraus kam er mit der Zusage, für den Stadtrat zu kandidieren. Denn dort traf er Armin Grein. "Ich kannte ihn schon, wir sind beide in Miltenberg auf das Gymnasium gegangen", so Keller.
Als Miltenberger "Babbler" skeptisch beäugt
Nachdem er 1990 bei seiner ersten Kandidatur ein Mandat knapp verfehlt hatte, rückte er 1991 für Stefan Schäth nach. "Als Miltenberger 'Babbler' wurde ich erst mal skeptisch beäugt", erinnert er sich an seine Anfänge. "Ich habe mir damals gesagt: Ich mach' das jetzt mal eine Periode und gut ist." Es wurden mehr.
Vor allem Themen wie der Bau der zweiten Mainbrücke, die Verlegung des Festplatzes an den Main sowie das Thema Krankenhaus prägten Keller – und Keller prägte sie. 2019 trat er nach Differenzen aus dem Ortsverband und der Stadtratsfraktion der Freien Wähler aus und in die frisch gegründete Wählervereinigung proMAR ein. 2020 zog diese mit fünf Mandaten in den Stadtrat. Auch Listenführer Ludwig Keller ist mit dabei.
Diskussion um das Krankenhaus Marktheidenfeld prägt
Wie er die Stadtrats-Arbeit rückblickend empfunden hat? Anspruchsvoll und teils sehr viel herausfordernder als der Schuldienst. "Hier ist niemand vorgesetzt und die Diskussionen laufen auf Augenhöhe", so Keller. Zudem schätzt er die Nähe zum Bürger und das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde. So sei er weniger der "Herr Lehrer", sondern volksnäher geworden.
Als prägend habe er die Zeit empfunden, in der die Diskussionen rund um das Krankenhaus Marktheidenfeld hoch her gingen. "In der Zeit hat Marktheidenfeld aus meiner Sicht die Position eines Mauerblümchens bekommen", beschreibt er rückblickend.
Bemüht sich weiterhin um die gute Versorgung mit Ärzten
Er kämpfe weiterhin dafür, dass ältere und kranke Menschen in Marktheidenfeld gut versorgt würden, auch unabhängig von einem Mandat. "Ich bin in der Ärzteschaft gut vernetzt und werde weiterhin versuchen, Ärzte zu motivieren, in die Region zu kommen", betont er.
Wie sich die Stadtratsarbeit in 34 Jahren verändert habe? "Als ich damals kam, bestand der Stadtrat mehr oder weniger aus Honoratioren", so Keller. Heute kämen die Mitglieder aus den unterschiedlichsten Bereichen und Interessensgruppen. Das mache die Themen vielschichtiger, berge aber auch die Gefahr, sich manchmal zu verzetteln.
Nochmal als Zuhörer kommen? Nein, danke!
Noch einmal als Zuhörer in eine Sitzung kommen will Keller aber eher nicht. "Ohne Not gehe ich da nicht mehr hin", sagt er und lacht. Die Vorstellung, dort zu sitzen und nicht mitdiskutieren zu dürfen, sei bei längerer Überlegung dann doch schwierig.
Aber auch ohne Stadtrat wird es dem Rentner Ludwig Keller nicht langweilig. Er freut sich auf längere Ausflüge mit dem Auto und mehr Zeit für den Austausch mit seinem Enkel in Potsdam. Und die Rolle als Stadtrats-Opa gibt er gerne weiter: Sein Nachfolger heißt übrigens Michael Carl – das hätten sie in der letzten Sitzung noch abschließend geklärt.