Die Handgelenke sind gerötet. Gurte fesseln einen jungen Mann an Armen und Beinen an sein Bett. Er schreit laut und rüttelt verzweifelt an der Fixierung. Im gleichen Zimmer einer Akutstation des Lohrer Bezirkskrankenhauses steht Rainer Beckmann. Er spricht ganz ruhig mit dem drogensüchtigen Patienten. "Wir werden Sie zunächst hierbehalten, auch gegen ihren Willen", sagt Beckmann. Dann wird es laut. "Das könnt Ihr nicht machen." Der junge Mann brüllt. Mehrere Männer müssen ihn festhalten. Die Stimmung ist angespannt. Dabei begann der Tag von Rainer Beckmann, Richter am Amtsgericht Gemünden, deutlich ruhiger.
Sechs Stunden zuvor: Beckmann sitzt entspannt in seinem Büro. Dunkle Jeans, schwarze Lederschuhe, weißes Hemd. An einer Pinnwand hängen Familienfotos. Er tippt ein paar Tasten auf seiner Tastatur. Dann steht er auf, streift sich die schwarze Richter-Robe über und blickt kurz in den Spiegel. Erste offizielle Amtshandlung ist ein Verkündungstermin um 9 Uhr. Der großgewachsene Würzburger schiebt sich eine Brille ins Gesicht und marschiert zum Sitzungssaal.
Ein Richter, zwei Fachgebiete
Der 58-Jährige ist Richter für Zivil- und Betreuungsachen. "Das sind zwei Gebiete, die in der öffentlichen Wahrnehmung häufig untergehen", sagt er und bemängelt, dass das Bild von Richtern meist nur mit Strafrecht verknüpft werde. Mord und Totschlag klinge eben spannender. Im Sitzungssaal angekommen, bleibt Beckmann an diesem Morgen zunächst alleine. Was nicht ungewöhnlich ist, denn bei einem Verkündungstermin gibt er lediglich ein Urteil bekannt, das die streitenden Parteien ohnehin schriftlich erhalten.
Normalerweise beschäftigt sich Beckmann überwiegend mit Vertragsstreitigkeiten oder Schadensersatzansprüchen. "Verkehrsunfälle und Mietstreitigkeiten sind unser tägliches Brot im Zivilrecht", erklärt er.
Um 10 Uhr schließt Beckmann erneut den Sitzungssaal auf. Dieses Mal, so sagt er, zu einem "ganz normalen Verhandlungstermin". Die 24 Besucherplätze sind leer. Es geht um einen Mann, der vor vielen Jahren von einem Gerüst stürzte, sich schwer verletzte und Schmerzensgeld forderte. Es gab Streit mit der Versicherung. "Der Fall ist kompliziert", sagt Beckmann. Während der Verhandlung spricht er mit den Rechtsanwälten beider Seiten, nimmt immer wieder Verfahrenshandlungen oder einzelne Angaben der Parteien mit seinem Diktiergerät auf. Begriffe wie "Prozesskostenhilfe", "Streitwert" oder "Kostenfestsetzungsbeschluss" fallen. Beckmann gibt sich streng, aber lösungsorientiert. Doch an diesem Vormittag gibt es kein Urteil.
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Beckmann: "Rund die Hälfte aller Zivilverfahren könnte man sich sparen"
Beckmann hofft, dass sich beide Parteien auch ohne Urteil in den nächsten Wochen einigen werden. "Aber das hängt natürlich vom Geschick des Richters ab und davon, ob man gut erklären kann, warum Kläger und Beklagter nicht komplett gewinnen oder verlieren werden." Laut Beckmann würde ungefähr ein Viertel aller Prozesse mit einem sogenannten Vergleich enden, also einer Einigung ohne Urteil. Doch der Richter spricht einen noch viel eindringlicheren Fakt an. "Rund die Hälfte aller Zivilverfahren könnte man sich sparen."
Viel zu oft fänden aussichtslose Prozesse statt, da es keine wirklich brauchbaren Beweismittel gebe oder die rechtlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch nicht vorlägen. Doch auch in solchen Fällen hätten Menschen das Recht, zu streiten. "Der Mensch ist eben Egoist, er meint meistens, nur er hat Recht", sagt Beckmann. Er sehe die unnötigen Prozesse jedoch "relativ gelassen".
Beckmann bearbeitet hunderte Fälle jährlich
Der vierfache Familienvater ist seit einem Jahr am Amtsgericht in Gemünden. Seit 1992 steht er in Diensten der bayerischen Justiz, zunächst als Staatsanwalt in Würzburg, später als Richter am Amtsgericht Kitzingen und ab 2010 als Betreuungs- und Insolvenzrichter in Würzburg. Nun also Gemünden, wo er zusätzlich noch Pressesprecher des Gerichtes ist. "Man langweilt sich hier nicht, das ist schon ein besonderer Job." 2019 bearbeitete Beckmann 201 Zivilverfahren. Hinzu kamen 538 Betreuungs- und Unterbringungsverfahren, insgesamt also 739 Fälle.
Eine halbe Stunde später sitzt Rainer Beckmann wieder in seinem Büro. Er telefoniert, beantwortet Mails. Über ein spezielles System lässt er das mit dem Diktiergerät aufgezeichnete Sitzungsprotokoll auf den Computer übertragen. "Büroarbeit und Akten gehören natürlich mit dazu", sagt er bevor er sich in eine Präsidiumssitzung verabschiedet.
Menschen, die nicht mehr selber entscheiden können
Um kurz nach 13 Uhr wechselt Rainer Beckmann sein Fachgebiet. Und schnell wird klar, dass seine Arbeit anders ist, als es viele Menschen von einem Richter erwarten. Vom etwas trocken wirkenden Zivilrecht stürzt er sich nun ins Betreuungsrecht. Soeben habe er von einem Kollegen erfahren, dass die Polizei einen fixierten Patient brachte. Die Robe hat also ausgedient, er schlüpft in eine dünne Winterjacke und läuft zu seinem Auto. Die Fahrt geht nach Lohr ins Bezirkskrankenhaus. "Ich kümmere mich hier überwiegend um Leute in geschlossenen Einrichtungen, die aus diversen Gründen nicht selbst entscheiden können", erklärt er. Auch "in die Ortschaften des Gerichtsbezirks zu fahren und mit schwierigen Leuten sprechen" gehöre zum Job des Betreuungsrichters.
In Lohr ist Beckmann kein Unbekannter. Mit einem eigenen Schlüssel durchquert er verschiedene Sicherheitsschleusen. Zunächst geht es auf die Station "6 oben", wo ältere Patienten mit psychiatrischen Krankheiten untergebracht werden. Dort muss er sich eine demenzkranke Patientin ansehen. "Es geht um ihre rechtliche Betreuung und um die Entscheidung, wer sich um ihre Angelegenheiten kümmern darf", erklärt Beckmann. Etwa um Haus- und Grundstücksangelegenheiten, die sie selbst aufgrund der Erkrankung nicht mehr regeln kann.
Die Frau liegt im Bett, hat die Augen geschlossen. "Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, welchen Monat wir haben?", fragt Beckmann. "Nee", antwortet die Frau. "Winter oder Sommer?" Die Patientin zögert kurz und sagt "Sommer". Ob Sie damit einverstanden sei, dass sich ihr Sohn weiter um die Betreuung kümmere, bejaht die Dame entschlossen. Und so entscheidet Beckmann, ihren Sohn weiterhin als Betreuer zu bestimmen.
Richter entscheiden über Fixierungen
14.30 Uhr. Beckmann läuft die Treppe runter zur "Akutstation". Zu dem Mann, den die Polizei brachte. Er gehört zu den "schwereren Fällen", wie es Beckmann später bezeichnen wird. Bis zum Ablauf des Tages nach einer solchen Einlieferung muss ein Richter entscheiden, wie es weitergeht. "Es geht wohl um einen Drogenabhängigen", sagt Beckmann, läuft zielstrebig ins Stationszimmer und bespricht sich mit den Ärzten. Dann betritt er das Patientenzimmer, aus dem bereits Schreie zu hören sind.
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Ein 31-jähriger schlanker Mann liegt fixiert auf dem Bett. Er hat eine frische Platzwunde auf der Stirn. Laut Polizeiangaben sei er ausgerastet und habe einen Stein auf eine Arztpraxis geworfen, weil er seine gewünschten Medikamente dort nicht bekam. Beckmann steht mit fünf Ärzten und Pflegern im Zimmer vor dem aggressiv brüllenden Mann. "Zurzeit gefährden Sie sich und andere", sagt Beckmann mit ruhiger Stimme. Er empfiehlt ihm, die ihm hier angebotenen Medikamente freiwillig zu nehmen. "Fick dich, Alter, ich mache lieber einen kalten Entzug", schreit der Drogensüchtige.
Kurz darauf beginnt er so stark an den Gurten zu rütteln, dass sein Bett wackelt. Bevor die Situation eskaliert, halten ihn die Männer fest. Beckmann verlässt den Raum. "Er wäre kräftig genug, um alles kurz und klein zu schlagen", sagt der Betreuungsrichter und ordnet eine weitere Fixierung und eine Unterbringung bis maximal sechs Wochen an. Ob er früher entlassen werden kann, wird dann ein Arzt entscheiden. "Diese Fixierungsmaßnahmen werden aber oft schon nach zwei, drei Stunden wieder aufgehoben", sagt Beckmann.
Feierabend? "Ich schreibe noch ein Urteil zuhause"
Ob ihn ein solcher Fall persönlich mitnimmt? "Eigentlich weniger, so etwas erlebe ich einmal im Monat", sagt Beckmann. Viel schlimmer empfinde er Fälle, in denen sich etwa Anorexie-Patienten zu Tode hungern. "So etwas ist dann wirklich traurig." Dennoch gelinge es ihm grundsätzlich, die nötige Distanz zu wahren.
Am Nachmittag steht für Beckmann noch ein Hausbesuch an. Dort spricht er mit einem Mann, der an Psychosen leidet. Auch von ihm muss er sich einen Eindruck verschaffen und prüfen, ob zwischen ihm und seinem rechtlichen Betreuer alles in Ordnung ist. Nach einem kurzen persönlichen Gespräch verabschiedet sich Beckmann und sagt: "Dann führen wir diese Betreuung weiter und ich komme in vier Jahren wieder vorbei." Es ist eine klare, unaufgeregte Art, die Beckmann in den Gesprächen ausstrahlt.
Es ist kurz vor 16 Uhr und Rainer Beckmann läuft zu seinem Auto. Einen Ausgleich zum belastenden Berufsalltag habe er. "Allerdings sind viele meiner Hobbys juristisch geprägt, von daher ist das alles nicht so dramatisch", sagt er schmunzelnd. In seiner Freizeit versucht er, in Kontakt mit seinen erwachsenen Kindern zu bleiben und betreibt Ausdauersport. Und, wenn es die Zeit zulässt, schaut er sich auch die Sportschau an. Doch heute ist noch nicht Feierabend. "Ich nehme mir eine Akte mit nach Hause und schreibe später noch ein Urteil."