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Lohr
Traditionsgeschäft "Schuh Heiner" schließt: Wie die Lohrer Schuh-Dynastie Schwind zu drei Namen kam
Die Tage von "Schuh Heiner" sind gezählt. Damit geht eine fast 300-jährige Familientradition zu Ende. Wobei der Name Schwind in Lohr fast ein Synonym ist für Schuhmacher.
Über 50 Jahre beriet Norbert Schwind die Kundinnen und Kunden bei 'Schuh Heiner'. Jetzt schließt er seinen Laden. Der Ausverkauf läuft seit April.
Foto: Roland Pleier | Über 50 Jahre beriet Norbert Schwind die Kundinnen und Kunden bei "Schuh Heiner". Jetzt schließt er seinen Laden. Der Ausverkauf läuft seit April.
Roland Pleier
 |  aktualisiert: 11.01.2025 02:33 Uhr

Flink wie ein Eichhörnchen springt er die sechs Stufen zum Lager hoch: Norbert Schwind hat Ausverkauf. Seit April schon und nur noch kurze Zeit. Auf den Tag genau will sich der 76-Jährige gar nicht festlegen. Fest steht: "Schuh Heiner" schließt. Damit geht eine Familientradition zu Ende: Der Stammbaum seiner Schuhe machenden Vorfahren reicht zurück bis ins Jahr 1726 – also fast 300 Jahre, sagt er. Maria Sophia von Erthal, von Lohrer Fabulologen als Schneewittchen auserkoren, war da gerade mal zwei Jahre alt.

Wenn's denn nur eine Familiengeschichte wäre. Es ist mehr: ein Stück Geschichte der Stadt Lohr, in der die Schuhmacherei und der Name Schwind untrennbar verbunden sind. Das Adressbuch aus dem Jahr 1882 listet nicht weniger als 63 Schuhmacher auf. 22 von diesen, also gut jeder dritte, hieß Schwind. Dazu gab es drei Schuhwarenlager (zwei betrieben von Schwinds) sowie neun Gerber und Lederhändler. Lohr zählte zu dieser Zeit rund 4500 Einwohnerinnen und Einwohner.

Die Schuhmacher waren mehr als die Bier-, Wein- und Gastwirte (unterm Strich 52), mehr als Schneider, Näherinnen und Kleidermacherinnen (41) zusammen, mehr als Schlosser (9), Schmiede (8), Schreiner (14) und Tüncher (19) zusammen, mehr als Bäcker (16), Konditoren (4) und Metzger (17) zusammen.

Schuhe für Waldarbeiter und eine bulgarische Armee

Die Lohrer genossen offenbar einen guten Ruf als Schuhmacher, erledigten auch Großaufträge. So lieferten sie laut Heimathistoriker Josef Harth in dieser Zeit Soldatenstiefel an das 1880 nach dem Berliner Kongress formierte Fürstentum Bulgarien, das eine eigene Armee aufbaute.

Auch bei Waldarbeitern war robustes Schuhwerk gefragt. Die Schuhmacher hätten sich die Region aufgeteilt, erzählt Schwind. So habe sein Großvater Josef Schwind seine Stiefel in Rechtenbach vertrieben. Doch die Schwellenmacher dort seien anspruchsvoll gewesen und hätten die Ware einer sehr speziellen Qualitätsprüfung unterzogen: Wenn Josef Schwind am Sonntag lieferte, seien die Stiefel vor der Kirche aufgestellt und mit Wasser gefüllt worden. Nur wenn der Wasserstand nach dem Gottesdienst unverändert war, war die Dichtigkeit erwiesen, wurde das Handwerk akzeptiert.

Norbert Schwind (links) als Dreikäsehoch Anfang der 1950er-Jahre vor dem Laden seines Großvaters Josef Schwind (hinten) in der Unteren Schlachthausgasse/ Ecke Färbergasse. Das Haus rechts im Hintergrund am Ende der Färbergasse wurde später abgerissen.
Foto: Familienarchiv Norbert Schwind | Norbert Schwind (links) als Dreikäsehoch Anfang der 1950er-Jahre vor dem Laden seines Großvaters Josef Schwind (hinten) in der Unteren Schlachthausgasse/ Ecke Färbergasse.

Keine acht Jahre war Norbert Schwind alt, als die Mutter starb. "Der erste gravierende Einschnitt in meinem Leben", sagt er. Mit drei jüngeren Schwestern wuchs er in der Färbergasse auf, wo es damals nur einen schmalen Durchgang zur Stadtmühlgasse gab und teilweise nur Planken auf dem Stadtbach lagen.

Der Name Schwind war und ist in Lohr so etwas wie ein Synonym für Schuster. Das Geschäft "Schuh+Sport Schwind" liegt immer noch schräg gegenüber, die Senior-Chefin von "Schuh Schnürr" in der Hauptstraße ist eine geborene Schwind. Mit beiden ist Norbert Schwind allenfalls entfernt verwandt.

Der Unterscheidbarkeit wegen prägte sein Vater Heinrich Schwind den Markennamen "Schuh Heiner". So steht es bis heute auf dem Rechnungsblock, den er immer noch per Hand ausfüllt, natürlich mit Durchschlägen für seine Unterlagen, die Norbert Schwind nach wie vor auf dem Spies neben der weinroten Registrierkasse aus den 1950ern sammelt.

Jeder Schwind vergrößerte das Geschäft

"Kleiner Schwind" wird er auch genannt – nicht der Laden-, sondern der Körpergröße wegen. Norbert Schwind ist mit 158 Zentimetern Länge keine Ausnahme in seiner Familie. Das hat aber auch Vorteile: Die niedrige Decke in seinem kleinen Büro ist kein Problem für ihn.

Doch der "kleine Schwind" ist gewachsen: Der Uropa, der auch schon Heinrich hieß, war mit seiner Werkstatt noch "irgendwo in Miete". Der Opa, Josef Schwind, kaufte 1904 das Haus in der Schlachthausgasse, der Vater Heinrich kurz nach dem Krieg das Nachbarhaus dazu. So hat "Schuh Heiner" zwei Adressen: Untere Schlachthausgasse 9 und Färbergasse 8. Ein weiteres angrenzendes Grundstück für das Lager kam 1979 dazu.

Norbert Schwind füllt seinen Rechnungsblock immer noch per Hand aus. Die Durchschläge sammelt er auf einem Spies neben der weinroten Registrierkasse aus den 1950ern.
Foto: Roland Pleier | Norbert Schwind füllt seinen Rechnungsblock immer noch per Hand aus. Die Durchschläge sammelt er auf einem Spies neben der weinroten Registrierkasse aus den 1950ern.

"Werkstatt und Laden – man kann nicht auf beiden Seiten Leistung bringen", meinte sein Vater. "Ich sollte mich auf den Laden konzentrieren", erzählt Norbert Schwind. "Das hat sich auch als richtig erwiesen." Anfang der 1960er lernte er Einzelhandelskaufmann, 1971 besuchte er die Schuhfachschule in Pirmasens (Rheinland-Pfalz), war danach fünf Jahre lang im Zentraleinkauf für Schuhe und Lederwaren in Frankfurt tätig, wo er auch das Abendgymnasium besuchte.

Wanderschuhe waren gefragt

Lange gehörten Forstleute zur Stammkundschaft. Bis in die 1970er-Jahre schrieb Schwind Rechnungen "an die Kleiderkasse". Kinderschuhe hat er ausgemustert. Dafür war das Lager zu klein. Als einer der ersten setzte er auf Wanderschuhe – kein Zufall, dass solche schon seit November 2024 abverkauft sind. Verkaufsstrategie Nummer eins war die Bequemlichkeit der Schuhe. Schwind im Rückblick: "Es war eine Erfolgsgeschichte."

Norbert Schwind ist Schuhhändler mit Leib und Seele. "Man ist, wie man ist – und so muss man sich akzeptieren", sagt er über sich selbst. Die größte Zäsur in seinem Leben war, als 1982 ein farbloses Melanom am Auge operiert wurde. Sein Glasauge ist durch die Brille, vor allem auch die buschigen Augenbrauen, kaum zu sehen. "Des musst Du, wenn Du mich mögst, aushalten", sagte er zu seiner Waltraud aus Kahl, die ihn 1986 heiratete. Sie half ebenso im Laden mit wie später Tochter Franziska, die 1991 auf die Welt kam und sich nun beruflich anders orientiert.

Uropa soll dem König die Stiefel geflickt haben

Eigensinnig sei er schon, räumt Norbert Schwind ein, "aber nicht eigenbrötlerisch". Analog galt für seine Kundinnen und Kunden: "Ich nehm' die Leut', wie sie sind – ob Akademiker, Obdachlose oder Leute, die kein Deutsch können." Männer probieren nicht so gern wie Frauen, so seine Erfahrung. "Da muss man mal ein bissle nachhelf'." Frauen hingegen seien länger im Laden, würden alles durchprobieren – auch wenn ihnen ein Schuh nicht so gefällt. "Recht haben sie", sagt der Fachmann. "Der Schuh sieht im Regal oft anders aus, als wenn man ihn am Fuß hat."

Männer probieren nicht so gerne Schuhe an wie Frauen, weiß Norbert Schwind aus Erfahrung. Da müsse man manchmal Überzeugungsarbeit leisten.
Foto: Roland Pleier | Männer probieren nicht so gerne Schuhe an wie Frauen, weiß Norbert Schwind aus Erfahrung. Da müsse man manchmal Überzeugungsarbeit leisten.

"Schuh Heiner", "der kleine Schwind" – es gibt einen dritten Namen für diesen Zweig der Schwind'schen Sippe: "König Schuster". Uropa Heinrich Schwind habe dem bayerischen König die Stiefel repariert, heißt es. Uropa Schwind war 18 Jahre alt, als der drei Jahre ältere Ludwig II. seine einzige Dienstreise ins Frankenland absolvierte. 1866 war das, kurz nach dem deutsch-deutschen Bruderkrieg zwischen Bayern und Preußen.

Norbert Schwind weiß noch nicht, was mit den Räumlichkeiten passiert

Allerdings stieg der Märchenkönig gar nicht aus dem Zug, mit dem er aus Gemünden gekommen war: Er empfing nur Bürgermeister Josef Schiele im Salonwagen. Doch davor hatte er die Schlachtfelder bei Bad Kissingen und Würzburg besucht – Helmstadt, Uettingen, Remlingen, Roßbrunn und Hettstadt. Da war er mit einem Tross von 93 Pferden und 17 Wagen unterwegs – denkbar, dass in diesen Tagen schon ein königlicher Stiefel nach Lohr gebracht worden war.

So oder so - Norbert Schwind hat darauf nie viel gegeben. Die Entscheidung seiner Tochter, den Laden doch nicht zu übernehmen und als Pflegefachkraft zu arbeiten, hat er akzeptiert. "Jeder ist, wie er ist." An wen er die Geschäftsräume vielleicht vermietet: offen. Was er künftig machen wird: fraglich. Sich weiter fit halten: wahrscheinlich. Aber sicher: auch mal essen gehen. Eine Kundin habe ihn eingeladen, freut er sich, als Dank dafür, dass "ich sie immer so gut bedient habe".

 
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Kommentare
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  • Barbara Fersch
    Das ist eine sehr nette Geste einer Kundin, Herrn Schwind für seine gute Beratung in all den Jahren zum Essen ein zu laden.
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