Nach und nach trudeln die Klientinnen und Klienten ein. Sie begrüßen sich gegenseitig und die Betreuungskraft. Die Hauswirtschafterin ist in der zum Essbereich hin offenen Küche beschäftigt, ein Elektriker hantiert im Büro. Am Morgen ist viel los in der Tagesstätte Horizont. Dort werden seit 1998 psychisch kranke und behinderte Menschen von montags bis freitags betreut.
Mit einer Tasse Kaffee und ersten Gesprächen beginnt um neun Uhr der Arbeitstag. Einige Männer und Frauen sitzen an ihren Werktischen und zählen metallene Beilagscheiben ab, immer 100 in einen Beutel. Dazu haben sie vor sich eine Schablone, in die sie die Scheiben legen. Ein anderer verschweißt die Kunststoffbeutel und beklebt sie mit Etiketten.
Im Flur stapeln sich Kisten mit Edelstahlmuffen. Sie werden von einem Fahrer des Erthal-Sozialwerks in die Werkstatt gebracht und dort im Auftrag der Kunden weiterverarbeitet. Im Gegenzug bringt der Fahrer einen neuen Auftrag für die Arbeitstherapie. "Es geht hier rein um die Beschäftigung und die Teilhabe am Arbeitsleben", erklärt Heike Mühlberger, die seit 2018 die Einrichtung leitet. Das Angebot sei niederschwellig und für Menschen geeignet, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht leistungsorientiert arbeiten können.
Psychisch erkrankte brauchen Struktur im Tagesablauf
In der Tagesstätte hat jeder einen fest zugewiesenen Platz. Das gibt Halt und Ordnung. Das ist es, was vielen Betroffenen fehle. Andreas Fuchs (44 Jahre) aus Faulbach sagt, der tägliche Besuch der Tagesstätte Horizont gebe ihm dringend benötigte Struktur, ebenso wie das selbst auferlegte strikte Alkoholverbot unter der Woche und der obligatorische Besuch bei einem Freund am Freitagabend.
Schon als Kind habe er die Auswirkungen der psychischen Probleme und der Alkoholsucht seines Vaters zu spüren bekommen. Er selbst kämpft seit seiner Jugend mit Depressionen und Stimmungsschwankungen. Deshalb konnte er seine Ausbildung im Handwerk nicht beenden, verlor mehrere Arbeitsstellen und war längere Zeit in einer Rehabilitationseinrichtung untergebracht.
Selbst bestimmt und würdevoll leben mit einer psychischen Erkrankung
Das Erthal-Sozialwerk hat sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung ein selbst bestimmtes und würdevolles Leben zu ermöglichen. Dazu bietet es unterfrankenweit verschiedene Angebote an. In der Tagesstätte Horizont können Klienten nicht nur arbeiten, sondern auch Lebenspraktisches trainieren und kreativ sein. Während einige mit der Hauswirtschafterin den Wocheneinkauf im Supermarkt besorgen und anschließend Gemüse für das gemeinsame Mittagessen schnippeln, sitzt Rita Frank (49) an ihrem Arbeitstisch.
Die Marktheidenfelderin kommt seit drei Jahren in die Tagesstätte. Nachdem sie im Alter von 29 Jahren zum ersten Mal Witwe geworden war, und später auch ihr zweiter Mann starb, habe ihr das den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie arbeitete zeitweise in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung und Behinderung. "Doch das war mir zu viel", erzählt sie.
Glückwunschkarten für die Stadt Marktheidenfeld
Auf ihrem Arbeitstisch liegen Schere, Kleber und buntes Papier. Die von ihr gebastelten Glückwunschkarten werden zum Beispiel von der Stadt Marktheidenfeld an Jubilare verschenkt, weiß Mühlberger. Die 49-Jährige hat einen Vertrag für drei Tage pro Woche, kommt aber öfters in die Tagesstätte. Sie fühle sich zu Hause alleine, sagt die Einrichtungsleiterin.
Die Finanzierung der Tagesstätte durch den Bezirk Unterfranken sei auf Vollzeitbetreuung ausgelegt. Mit ein bisschen Flexibilität und gutem Willen sei es jedoch möglich, Klienten auch tageweise zu betreuen. "Zu uns kommen 20 Klienten und belegen 16 Plätze", sagt Mühlberger. Dass der Betreuungsschlüssel nicht eingehalten werden könne, sei in ihrem Metier Standard.
Tagesstätte Horizont sucht in Lohr größere Räumlichkeiten für mehr Klienten
Das Erthal-Sozialwerk unterhält auch in Lohr eine Tagesstätte. Man suche seit 2020 nach größeren Räumlichkeiten. Dann dürften auch mehr als derzeit acht Menschen betreut werden. Eine Genehmigung des Bezirks liegt bereits vor. "Der Bedarf an Betreuungsplätzen steigt", sagt Mühlberger. Vor allem während der Corona-Pandemie hätte viele Betroffene ihre Tagesstruktur verloren und würden sich schwer tun, wieder Fuß im gesellschaftlichen Leben zu fassen.
So erging es auch einer 52-Jährigen aus Main-Spessart, die nicht möchte, dass ihr Name, ihr Alter und ihr Wohnort genannt werden. Sie erzählt, dass sie nach einem Suizidversuch seit Dezember 2021 in der Betreuung der Tagesstätte Horizont ist. Von einem Moment auf den nächsten hatte sie Angststörungen. Sie habe zum Beispiel nicht alleine das Haus verlassen können. Neben dem ausgeprägten Gefühl habe sie auch körperliche Symptome gehabt, hätte nicht mehr Autofahren können, so sehr habe sie gezittert. "Ich habe alleine gewohnt. Meine Existenz war bedroht", sagt sie rückblickend. "Viele aus meiner Familie und aus meinem Bekanntenkreis können sich nicht vorstellen, was ich durchmache."
Keine Chance mehr am ersten Arbeitsmarkt
Wer meint, das betreffe nur Alleinstehende, der irrt, sagt die Einrichtungsleiterin. Die Krankheitsbilder der betreuten Menschen sind vielfältig. Einen Platz in der Tagesstätte erhält man allerdings nur, wenn der Bezirk Unterfranken dies genehmigt – und wenn einer frei ist.
Während manche Betroffene offen über ihr Schicksal sprechen, möchte ein Mann aus Main-Spessart anonym bleiben. "Die Gesellschaft grenzt psychisch kranke Menschen aus, deshalb gibt es Orte wie diese Tagesstätte", sagt der Mittfünfziger, der seit zwei Jahren dorthin kommt. Die Gespräche mit anderen Klienten seien ihm wichtig und würden gut tun. Er ist sich sicher, dass er am sogenannten ersten Arbeitsmarkt in seinem früheren Beruf nicht wieder arbeiten könne: "Wenn ich unter Druck stehe, bekomme ich massive Konzentrationsstörungen und bin nicht mehr ich selbst."