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Marktheidenfeld
So wurde Marktheidenfeld zur Stadt: Einwohnerzahl stieg gewaltig durch die Heimatvertriebenen
Aus der Geschichte Main-Spessarts (131): Nach dem Krieg wuchs die Einwohnerzahl in Marktheidenfeld. Die Baugenossenschaft Heimstättenwerk sorgte für Wohnraum. Die Vertriebenen integrierten sich zunehmend in ihre neue Heimat.
In den 50er Jahren gab es in Marktheidenfeld eine rege Bautätigkeit im Norden der Stadt. Links im Bild sind die Baracken der Düsseldorfer Siedlung zu sehen. 
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv | In den 50er Jahren gab es in Marktheidenfeld eine rege Bautätigkeit im Norden der Stadt. Links im Bild sind die Baracken der Düsseldorfer Siedlung zu sehen. 
Leonhard Scherg
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:10 Uhr

Die damalige Gemeinde Marktheidenfeld hatte 1933 noch 2200 Einwohner. Dann wuchsen die Einwohnerzahlen deutlich und verdoppelten sich nahezu bis zum Jahr 1948 auf 4266 Einwohner. Nicht zuletzt der gewaltige Zuwachs von Heimatvertriebenen nach 1945 war verantwortlich dafür, dass der bereits zweimal vergeblich gestellte Antrag auf „Stadterhebung“ (1927, 1933) nun endlich beim dritten Anlauf 1947 erhört wurde. Übrigens als erster Gemeinde Bayerns nach dem Krieg wurde Marktheidenfeld schließlich am 8. April 1948 der Titel „Stadt“ verliehen.

Diese Zunahme der Bevölkerung führte zu einer völligen Veränderung. Bereits in der letzten Kriegsphase hatten Menschen aus den Kriegsgebieten ihre Heimat aufgeben müssen und eine neue Bleibe gesucht. Als die Ausländer in ihre Heimat zurückkehrten, als die Düsseldorfer und Würzburger in ihre Städte heimkehrten, folgte die geplante Ansiedlung der zwangsweise Ausgesiedelten, der Heimatvertriebenen. Nur die wenigsten konnten sich ihren neuen Wohnort aussuchen.

Baracken in der Düsseldorfer Siedlung

Der Wohnraum in Marktheidenfeld war knapp. Genutzt wurden zur Unterbringung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen neben den Massenquartieren in den Gaststätten die zahlreichen während des Krieges errichteten Behelfsheime und die Baracken der Düsseldorfer Siedlung am nördlichen Stadtrand. Und natürlich kam es unvermeidlich zur Wohnraumbewirtschaftung, zu Einquartierungen und zu Zwangseinweisungen. Und nicht nur die damit verbundene Störung des häuslichen Friedens, sondern Konfessionsunterschiede, ungewohnte Sitten und Gebräuche sorgten für Reibungen und erschwerten zunächst das Zusammenleben.

Das Barackenlager „Düsseldorfer Siedlung“ in Marktheidenfeld. Es waren Behelfsheime hinter dem damaligen Landratsamt.
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv Marktheidenfeld | Das Barackenlager „Düsseldorfer Siedlung“ in Marktheidenfeld. Es waren Behelfsheime hinter dem damaligen Landratsamt.

Ende 1943 hatte die Stadt Düsseldorf wie an anderen Standorten in Mainfranken in Marktheidenfeld mit dem Bau von Barackensiedlungen als „Ausweichwohnungen für Fliegergeschädigte“ begonnen. Das als „Düsseldorfer Siedlung“ bezeichnete Lager mit elf Baracken und je vier Wohnungen wurde Anfang 1946 den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen zur Verfügung gestellt, zunächst als Durchgangslager, dann ab März 1949 als Wohnlager. Erst 1961 begann die Auflösung des Lagers. Das Heimstättenwerk ermöglichte dies mit dem Bau weiterer größerer Wohnhäuser. Oft war die Anwesenheit von Verwandten oder Bekannten oder von Kriegskameraden oder die Zusammenführung von durch die Wirren der Nachkriegszeit versprengten Familien Grund für die Übersiedlung in den Landkreis und nach Marktheidenfeld.

Der Schaffung von Wohnraum kam jedenfalls große Bedeutung zu. Dies war auch das Ziel der Baugenossenschaft Heimstättenwerk, die 1949 durch die Fusion der bestehenden Baugenossenschaft und der in Gründung befindlichen Heimsiedlergemeinschaft unter tatkräftiger Mitwirkung des Landratsamtes und mit Förderung durch den Landkreis, durch Marktheidenfeld und weitere Gemeinden entstand.

Dr. Robert von Golitschek.
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv Marktheidenfeld | Dr. Robert von Golitschek.

Für die ersten drei Mehrfamilienwohnhäuser konnte bereits 1950 das Richtfest gefeiert werden. Und in den 1950er Jahren sollten noch Mehrfamilienhäuser in Marktheidenfeld, Lengfurt, Remlingen, Kredenbach, Hasloch, Faulbach, Hafenlohr und Kreuzwertheim folgen. Schwerpunkt der Bautätigkeit war Marktheidenfeld, speziell der Norden von Marktheidenfeld. Neben dem Bau von Mehrfamilienhäusern wurden zahlreiche private Bauvorhaben betreut.

Treibende Kraft der Bautätigkeit war Dr. Robert von Golitschek (1904-1984), der bei der Fusion 1949 zum Geschäftsführer und Vorsitzenden des Heimstättenwerks gewählt worden war und bis 1970 diese Funktionen innehatte. Im August 1945 wurde er mit Frau und zwei Kindern aus Reichenberg vertrieben und kam schließlich Anfang 1946 nach Glasofen. Nach seiner Ernennung zum Geschäftsführer des Heimstättenwerks zog er nach Marktheidenfeld um, wo er bis 1970 in dieser Funktion erfolgreich tätig war und 1984 verstarb.

Rege Bautätigkeit des Heimstättenwerks

Die rege Bautätigkeit des Heimstättenwerks und der Einfamilienhäuser war nur möglich, weil sich Marktheidenfeld offen für die Ansiedlung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen zeigte und letztlich darin auch eine Chance für die Weiterentwicklung der Gemeinde sah. Eingeleitet wurde 1948-1950 ein erstes Bauumlegungsverfahren, mit der sich das Stadtgebiet von 16 Hektar 1939 um 28 Hektar auf 44 Hektar erweiterte.

Ein zweites Verfahren, das sich unmittelbar anschloss, brachte die Erweiterung im Norden und Osten um weitere 14 auf 58 Hektar im Jahr 1955. Dass die Entscheidung richtig war, zeigt die Bevölkerungsentwicklung. Die mit Abwanderung in industriell besser erschlossene Gebiete auf 4144 im Jahr 1950 zurückgegangene Einwohnerzahl stieg auf 4498 im Jahr 1955 an. Viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die zunächst in den Umlandgemeinden untergekommen waren, fanden nun den Weg nach Marktheidenfeld.

Oberin Lisbeth Zeuner.
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv Marktheidenfeld | Oberin Lisbeth Zeuner.

Als Beispiel mögen die durch die Kriegsereignisse versprengten und heimatlos gewordenen Lehmgrubener Diakonissen aus Breslau dienen, die nach der Vertreibung aus Schlesien zunächst 1946 Unterkunft im Schloss Triefenstein in Trennfeld gefunden hatten, dort unter ihrem Rektor Justus Günther (Amtszeit 1939-1960) ihr Mutterhaus errichteten und „im Alters- und Pflegeheim etwa 200 alte und gebrechliche Heimatvertriebene“ betreuten. 1950/51 entstand dann unter Oberin Liesbeth Zeuner (1891-1975; Oberin 1949-1967) in Marktheidenfeld das Haus „Gottestreue“ und dann das neue Mutterhaus der Gemeinschaft. Der davor liegende Straßenabschnitt der Frühlingsstraße wurde in Lehmgrubener Straße umbenannt. Ende 1955 wurden 150 Personen unter der Adresse „Lehmgrubener Straße 18“ erfasst.

Nicht nur mit der Übersiedlung der Diakonissen nahm die Zahl der evangelischen Christen zu. Das bisher bestehende zur Pfarrei Lohr gehörende exponierte Vikariat wurde daher 1948 zu einer selbständigen Pfarrei erhoben. Der bisherige Vikar Karl Kögel setzte ab 1. Dezember 1948 bis 1966 die Betreuung der evangelischen Christen fort, deren Zahl  im Jahr 1951 auf 1320 angewachsen war.

Wilfried Keller.
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv Marktheidenfeld | Wilfried Keller.

Der 1918 in Prag geborene Wilfried Keller, der 1946 nach Westdeutschland und schließlich nach Hafenlohr gekommen war, engagierte sich als promovierter Jurist von Anfang an für die Belange der Vertriebenen. Von 1950 bis 1953 und erneut von 1958 bis 1962 war er Mitglied des bayerischen Landtags, von 1952 bis 1957 Mitglied des Deutschen Bundestags. 1991 verstarb er in Marktheidenfeld.

Eine besondere Bedeutung hatten die Heimatvertriebenen übrigens für die SPD. Unter den sudetendeutschen Vertriebenen gab es zahlreiche angestammte Mitglieder. Allein im Sommer 1946 traf ein Transport mit 400 sudetendeutschen Sozialdemokraten in Marktheidenfeld ein. Auch wenn viele Marktheidenfeld bald wieder verließen, weil sie keine Arbeit fanden, die SPD entwickelte sich zu einer schlagkräftigen Partei mit fester Struktur, nicht nur in Marktheidenfeld. 

Die Bevölkerungszunahme und das Streben der Neubürger nach Selbständigkeit und nach Fortsetzung ihrer früheren beruflichen Tätigkeit ließen zahlreiche neue wirtschaftliche Aktivitäten entstehen. Arbeitsplätze waren einerseits Mangelware, andererseits hatten die Neubürger einen gewerblichen Hintergrund. Marktheidenfeld und der Landkreis waren bisher noch immer stark landwirtschaftlich geprägt. Mälzerei, Brauerei und Ziegelei waren die bestimmenden Betriebe. Das begann sich nun zu verändern.

Zu der Firma Draht Bremer, die schon 1943 mit einem Filialbetrieb aus Rostock nach Marktheidenfeld gekommen war, kamen, um nur die größeren Betriebe zu nennen, Draht- und Eisenwaren Bieräugel und Buchdruckerei Schleunung 1947, Gerberei und Lederfabrik Ludwig Becker , später Wiesner, 1948, die Keramikfabrik Reckzeh & Gleisberg, die späteren Eltonwerke, 1949-51, die Kartonagenfabrik August Ruppel 1950 und die Druckerei Leonhardt 1954. Nicht zu vergessen die Handschuhfabriken von Gustav Hauck und Gerhard Wiesner, die auch zahlreiche Heimarbeitsplätze anboten. Marktheidenfeld wurde gewerblich aktiver, vielfältiger, bunter,  letztlich städtischer. 1952 gab es in Marktheidenfeld 79 Betriebe mit etwas über 2300 Beschäftigten, 1961 waren in 395 nicht landwirtschaftlichen Arbeitsstätten 2965 Beschäftigte tätig.

Die Sudetendeutsche Jugend Marktheidenfeld: Treffen im Gasthaus Krone 1955/56.  In einheitlicher Kluft stellten sich um 1955 im Gasthaus Krone (von links) Horst Schuster, Gerhard Killer, Karl Hruschka, Hans Zettl, Rudolf Richter, Adolf Schuster und Roland Grund dem Fotografen.
Foto: Archiv Karl Hruschka | Die Sudetendeutsche Jugend Marktheidenfeld: Treffen im Gasthaus Krone 1955/56. In einheitlicher Kluft stellten sich um 1955 im Gasthaus Krone (von links) Horst Schuster, Gerhard Killer, Karl Hruschka, Hans Zettl, ...

Zur Sicherung der eigenen Traditionen und Identität entstanden nach Aufhebung des Koalitionsverbots auch in Marktheidenfeld landsmannschaftlich ausgerichtete Organisationen innerhalb des Bunds der Vertriebenen (BdV), besonders ein Ortsverband der Sudetendeutschen Landsmannschaft, und noch kleinräumiger die „Egerländer Gmoi“. Für die Jugendlichen gab es die Sudetendeutsche Jugend (SDJ) beziehungsweise erweitert die Deutsche Jugend des Ostens (DJO).

Marktheidenfeld wurde zur neuen Heimat

Mit einheitlicher Kluft traten sie bei entsprechenden Versammlungen auf und unternahmen gemeinsame Ausflüge nah und fern. Mit ihren Aktivitäten öffneten sie sich aber auch für einheimische Jugendliche. Ende der 1960er Jahre lösten sich die Jugendorganisationen auf. Gepflegt wurde in den Organisationen auch der Gedanke an eine Rückkehr in die alte Heimat, aber immer stärker war man verankert in der neuen Heimat, die man auch entsprechend mitgestaltete.

Zur Integration in der Neuen Heimat trugen besonders Kindergarten und Schule bei und nicht zuletzt die örtlichen Vereine. Zunächst hatte es beim Fußballspiel geheißen „Main gegen Lager“, bald schon aber spielte man zusammen in den Mannschaften des TVM. Als Beispiel ist Siggi Held (*1942) zu nennen, der mit seinen Eltern in der Düsseldorfer Siedlung gelandet war und über den Fußball in Marktheidenfeld eine nationale und internationale Karriere begann.

Eine besondere Rolle spielte auch die Musik, schließlich war Böhmen das Land der Musiker. Erinnert sei hier nur an den k.u.k. Kapellmeister und Komponisten Karl Putz (1883-1971), der zur 1100-Jahrfeier einen „Marktheidenfelder Jubiläumsmarsch“ komponierte. Unter Leitung von Eduard Czechner entstanden verschiedene Orchester, das Alt- und Neubürgern offen stand. Das von ihm gegründete und lange Jahre geleitete Madolinenorchester bestand bis in die 1980er Jahre.

Eduard Czechner mit seinen Musikern im Pfarrjugendheim Marktheidenfeld Ende der 1950er Jahre.
Foto: Repro Scherg/Stadtarchiv Marktheidenfeld | Eduard Czechner mit seinen Musikern im Pfarrjugendheim Marktheidenfeld Ende der 1950er Jahre.

Nicht zu vergessen der 1947 entstandene „Kulturkreis“, in dem Neubürger eine wichtige Rolle spielten und der mit Theateraufführungen und Vorträgen  das kulturelle Leben der Stadt bereicherte. Daraus ging 1953 die spätere Volkshochschule hervor.

Zeichen der gelungenen Integration war, dass 1969 in Bayern die Flüchtlingsämter aufgelöst wurden. Sie waren ab November 1945 bei den Landratsämter eingerichtet worden, waren unter anderem zuständig für Zuzugs- und Aufenthaltsgenehmigungen und arbeiteten eng mit dem jeweiligen Wohnungsamt zusammen.

Böhmerwaldstraße, Danziger Straße, Egerländerstraße, Lehmgrubener Straße, Ostlandstraße, Pommernstraße, Schlesienstraße, Sudetenstraße – die Straßennamen in Marktheidenfeld erinnern vor Ort an frühere Herkunftsgebiete und damit an Evakuierung, Flucht und Vertreibung als Folge des 2. Weltkriegs. Sie erinnern aber auch an die nicht zuletzt aufgrund des gemeinsamen Schicksals eines verlorenen Kriegs gelungene Integration, an die gemeinsame Aufbauleistung, nicht zuletzt an die gemeinsame Errichtung einer demokratischen freien Gesellschaft.

Zum Autor:  Dr. Leonhard Scherg war von 1984 bis 2008 Bürgermeister von Marktheidenfeld, er ist Kreisarchivpfleger für den Altlandkreis Marktheidenfeld und Rothenfels.

Literatur: Robin Schreier, Die Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in den Altkreis Marktheidenfeld, Facharbeit am Balthasar-Neumann-Gymnasium, 1980.

Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter /dossier/geschichte-der-region-main-spessart/

 
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