Bis vor fünf Jahren war es das Schuhhaus Gaul. In früheren Zeiten aber könnte das Gebäude in der Karlstadter Hauptstraße 52 das Rathaus von Karlstadt gewesen sein. Das klingt anmaßend? Bauherr und Architekt Jörg Finkbeiner weiß mehr zu dem Thema: "Viele denken, dass Rathäuser meist am Marktplatz standen. Doch das stimmt nicht. Am Marktplatz gab es die Markthallen für den Handel. Die Macht und Repräsentation dagegen war in den Städten früher häufig an einer anderen Stelle." Der Dr. Ing. hat in der Architektur zu einem Thema der Baugeschichte promoviert.
Im Fall von Karlstadt ist hinlänglich bekannt, dass das heutige alte Rathaus am Marktplatz im Erdgeschoss eine Markthalle beherbergte und im Obergeschoss einen Bürgersaal. Wo aber war die Verwaltung? Die Hohe Kemenate war ein Gebäude, das seit der Sanierung immer als "Ministerialiengebäude" bezeichnet wird, in dem ein hoher Bediensteter des Bischofs residiert haben könnte. Der höchste Beamte des Fürstbischofs in der Stadt, der Amtskeller, saß bekanntlich im heutigen Polizeigebäude und das Gericht tagte vor dem Haus. All das könnten Indizien dafür sein, dass Karlstadts Herrschaftsliegenschaften in dieser Gegend beheimatet waren, darunter eben auch das Rathaus.
Ein Indiz für die "Rathaustheorie" ist die Tatsache, dass das einstige Schuhhaus Gaul in der Hauptstraße 52 ursprünglich kein Wohnhaus war. Finkbeiner: "Es hatte nur zwei Zwischenwände im ersten Obergeschoss und keine Herdstelle, keinen Kamin." Außerdem sind das Erdgeschoss und das Obergeschoss ungewöhnlich hoch. Auch gab es zunächst keinen Keller. "Es muss eine öffentliche Nutzung gehabt haben." Einen schriftlichen Beleg für diese Annahme gibt es nicht, das Stadtarchiv ist im zweiten Weltkrieg verbrannt.
Bohlenwände wie in der Ratsstube am Marktplatz
Besonders spannend ist ein weiteres Indiz: ein Raum im ersten Obergeschoss. Dieser hatte auf den Innenseiten senkrechte Bohlenwände mit eingesetzten Bohlen, die mit Holznägeln befestigt waren – genau wie in der Ratsstube des Rathauses am Marktplatz. Finkbeiner: "Diese Holzbohlenwände sind in Deutschland einmalig oder zumindest weder dem Landesamt für Denkmalschutz noch in der Literatur bekannt." Lediglich im Haus Englinski in der Hauptstraße 23 gibt es noch Fragmente einer solchen Wand.
Weitere Erkenntnisse könnte eine dendrochronologische Untersuchung der Bohlenwand im Rathaus bringen. Denn im 15. Jahrhundert wurde der Rat kurzzeitig vergrößert. Da könnte der Umzug ins Rathaus am Marktplatz erfolgt sein, wofür dort möglicherweise die Ratsstube nachträglich eingebaut wurde – nach dem Vorbild der Holzbohlenstube in der Hauptstraße 52.
Dieselbe Bauzeit wie das alte Rathaus
Im Schuhhaus Gaul stammen die ältesten Balken und der Dachstuhl von 1425, sind also fast bauzeitgleich mit dem Rathaus am Marktplatz, das auf 1422 datiert wird. Die ersten Umbauten, die auf eine Wohnnutzung hinweisen, erfolgten 1539. Da wurde das erste Obergeschoss weiter aufgeteilt und eine Herdstelle wurde eingebaut.
In den 1570er Jahren wurde die Westhälfte des Gebäudes mit einem Tonnengewölbe unterkellert. Dass dieser Keller nachträglich eingebaut wurde, zeigt sich daran, dass er erheblich schmäler ist als das Haus selbst. Im Zuge dieser Umbauten wurde die Statik des Hauses erstmals ernsthaft beeinträchtigt. Ein großer Rundholzunterzug am Südrand des Erdgeschosses wurde nötig, da dort die eigene Außenwand des Hauses Hauptstraße 52 entfernt wurde. Ohne das Nachbarhaus Schaidacher wäre das Gebäude dort also offen. Diese heutige nördliche Außenwand des Hauses Schaidacher stammt von einem noch älteren Vorgängerbau der heutigen Hauptstraße 52, wie an den Steinkonsolen im Mauerwerk zu sehen ist.
Umbauten gefährdeten die Statik
Vom 17. Jahrhundert an wird die Hausgeschichte transparenter. Ab da gibt es Aufzeichnungen, wonach viele Handwerker da gelebt haben, vor allem Seiler, aber auch Gerber. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde auch die Fassade zur Hauptstraße und zur Färbergasse hin neu gebaut. Finkbeiner: "Die war ursprünglich rund einen Meter weiter innen, sodass die oberen Stockwerke auskragten. Nach dem Umbau war die Fassade von unten bis oben durchgängig gerade." Auch kam die Verlängerung des Kellers in Richtung Hauptstraße hinzu. Das Gebäude wurde geteilt. Die Westwand zur Färbergasse 1 wurde geschlossen und lastete seither mit ihrem gesamten Gewicht auf dem Gewölbe.
Mehr als 400 Kubikmeter Schutt haben Jörg Finkbeiner und seine Frau Sabine Preßer seit Beginn der Freilegungen 2019 aus dem Gebäude herausgeräumt. Beispielsweise waren mit dem Umbau 1955 die Decken aufgedoppelt worden. Als Schüttung kam Schutt bis zu 50 Zentimeter hoch auf die Balken – eigentlich viel zu schwer für die Statik. Auch wurden Pfeiler in den unteren Geschossen nie genau dorthin gesetzt, wo die Last wirklich abgetragen werden musste. Sabine Preßer: "Die haben sich grundsätzlich um 50 bis 60 Zentimeter vermessen."
Wände werden wieder eisenoxidschwarz
Nach der Reparatur des Tragwerks kommt demnächst die weitere Instandsetzung. Die großen Glasschaufenster werden denkmalverträglich aufgeteilt und die Mauerecke wiederhergestellt. Als Heizung werden Flächenheizungen auf den Wänden oder unter den Decken eingebaut – je nachdem, wie es die historischen Befunde zulassen. Ursprünglich sollte dort der Laden "Pignon" einziehen. Weil Sabine Preßer und Jörg Finkbeiner nach Schweden umziehen, wird er vermietet.
In der sieben mal fünf Meter großen Ratsstube – wenn man sie so nennen darf – werden die beiden erhaltenen Bohlenwände instandgesetzt. Sie werden wieder wie einst eisenoxidschwarz. In einer Hälfte wird voraussichtlich die ebenfalls schwarz gefasste Bohlenbalkendecke wieder sichtbar sein, in der anderen Hälfte der beschädigte Stuck des 18. Jahrhundert wieder repariert werden. Das zweite Obergeschoss wird zu der Wohnung im ersten Obergeschoss gehören. Im Dachboden mit seinen fast 600 Jahre alten Balken erfolgt kein Ausbau.