Reinhold Müller ist der Letzte seiner Art. Der 64-Jährige ist der letzte "Baseschnitzer" im Besenschnitzerdorf Wernfeld. Einst war das Besenschnitzen oder Besenbinden in dem Ort, dessen Wappen neben einem irdenen Krug der Töpfer auch zwei gekreuzte Reisigbesen zieren, für sechs, sieben Familien ein – ziemlich aufwändiger – Nebenverdienst. Heute ist nur noch Reinhold Müller übrig. Und auch er produziert nur noch nach Bedarf. Kunststoffbesen haben die Besen aus Birkenreisig, die viele allenfalls noch als Deko oder vom Knecht Ruprecht kennt, fast ganz verdrängt. Dabei gebe es zum Fegen von feinem Schnee oder von Laub nichts Schöneres als einen Reisigbesen, sagt Müller.
Für solche Besen muss im Winter, wenn das Laub abgefallen ist, jede Menge Reisig aus den Kronen von Birken gesammelt werden. Früher, als sein Vater noch lebte, ist die ganze Familie im Winter mit Handwägen bis nach Gräfendorf und bis hinauf nach Mittelsinn gelaufen, um Birkenreisig aus dem Wald zu holen, erzählt er. Man kann sich gut vorstellen, dass alleine das schon immer einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Hunderte große Bündel ("Orge") mit einem Durchmesser von 40, 50 Zentimeter waren allein für die Besen der Müllers nötig. "So viele Birken musst du erst mal finden", sagt Müller. Entsprechend lag bei der Familie früher alles voll mit Birkenreisig.
In der Besenkammer spendete der Kartoffeldämpfer Wärme
Das ganze Jahr über machte die Familie, die im Haupterwerb von der Landwirtschaft lebte, früher Besen. Monat für Monat banden sie alleine 300 kurze Besen, für die drei Weidenringe nötig sind. Für die langen Besen werden fünf Ringe benötigt. Die Müllers haben zwischen Wohnhaus und Stall eine Besenkammer, wo früher praktisch täglich Besen gebunden wurden. Im Winter spendete der Kartoffeldämpfer, in dem Kartoffeln für die Schweine gekocht wurden, Wärme. Die Reste vom Besenschnitzen wurden wieder zum Befeuern des Kartoffelkochers verwendet.
Warum man in Wernfeld von Besenschnitzen spricht, wird deutlich, wenn man Müller beim Binden eines Besens zuschaut. Denn mehrfach braucht es ein Messer. Die einzelnen Reisigzweige werden zunächst auf die richtige Länge zurechtgeschnitzt, am Schaft werden überschüssige Zweigchen mit einem sichelförmigen Messer abgeschnitten. Bei einem langen Besen braucht es ein paar starke Zweige, über die die zuvor gebundenen Weidenringe geschoben und mit einem Schlagholz geschlagen werden, und angespitzte schmälere Zweige, die dazu gesteckt werden. Anschließend wird das Einlegereisig oben im Besen "versteckt" und mit einer Weidenrute festgebunden, damit der Besen schön buschig ist. Zum Schluss schnitzt Müller der Optik halber an den Schäften der starken Reisigzweige noch etwas die Rinde ab.
Weidenruten wurden gespalten
Die Weidenruten ernteten die Müllers rund um den Gemündener Sportplatz, wo sie ein ihnen zugewiesenes Gebiet hatten. Weidenreste könne man in den Boden stecken, dann wachsen sie wieder an, erzählt der 64-Jährige. Zur Weiterverarbeitung wurden die Ruten der Länge nach gespalten. Dafür hat Müller ein "Schleiße" genanntes Holzteil, das von oben ein bisschen an einen Kreuzschlitzschraubenzieher erinnert, und das an einem Ende vier Flügel, am anderen drei hat – je nachdem wird eine Rute beim Durchziehen dann in vier oder drei Teile gespalten. Die Schleiße müsse noch von seinem Großvater sein, schätzt der Besenschnitzer. Schon trockene Weidenruten werden wieder elastisch, wenn sie in Wasser eingelegt werden.
Fast jede freie Minute waren Müller und seine Schwester früher zu Hause rund ums Besenschnitzen eingespannt. Die ganzen Jahre waren es jedoch sein Großvater und sein Vater gewesen, die die Besen machten. Reinhold Müller, der bei Rexroth an einer Maschine stand, arbeitete nur zu. Ein Nachbar habe irgendwann zu ihm gesagt, dass er doch hoffentlich weiter Besen machen werden. Woher solle er sonst künftig welche bekommen? Also ließ sich Reinhold von seinem Vater noch einmal zeigen, wie das genau funktioniert.
Die meisten Besen gingen nach Hessen
Früher hatte jeder in Wernfeld einen Reisigbesen. Die Leute kehrten ihren Hof, Bauern fegten mit ihnen den Stall aus, was ein Grund war, weshalb die Weidenringe nicht mit Nägeln fixiert werden durften. Denn sonst hätten die Kühe sich die Nägel in die Hufe treten können. Nach einem halben Jahr regelmäßigen Gebrauchs wurde ein neuer Besen gebraucht. Abnehmer waren auch das Sägewerk in Gemünden, wo damit frisch gesägte Bretter abgekehrt wurden, vor allem aber Händler aus dem hessischen Raum, erzählt Müller. Ganz früher verkauften sein Vater und seine Mutter auch in Würzburg auf dem Markt ihre Besen.
Heute verwendet kaum jemand mehr einen Reisigbesen zum Kehren. Die Leute kämen zu ihm, weil sie einen Dekoartikel oder ein Geschenk suchen, erzählt Müller. Mit ihm wird die Wernfelder Tradition des "Baseschnitzens" wohl aussterben. "Es geht ja kaum noch ein Besen weg." Sein Sohn jedenfalls, Fußballprofi Nicolai Müller, habe bisher kein Interesse am Besenbinden gezeigt. Reinhold Müller kann es ihm nicht verübeln. Damit nicht alles Wissen über das alte Handwerk verloren geht, hat der Gemündener Film-Photo-Ton-Museumsverein mit Müller vor ein paar Jahren einen Film über das Besenbinden gedreht.