
1919 wurden in Mühlbach und in Karlstadt auf Initiative der Bürgermeister eine Einwohner- und eine Bürgerwehr gebildet. Diese gutbeleumdeten Männer, meist Kriegsveteranen, waren verantwortlich für die Sicherheit in der Gemeinde. Die Männer waren bewaffnet aus den Beständen der Reichswehr. Ihre Gegner: linksradikale Unruhestifter und Bürger, die die nächtliche Ausgangssperre missachteten. Neben dem Ortsaufgebot gab es die Landwehr, die über die Dorfgrenzen hinaus eingesetzt wurde, sowie Gau- und Kreisverbände.
Um die Sorge um die Sicherheit nachzuvollziehen, muss man die damalige Situation im deutschen Reich verstehen. Der Erste Weltkrieg war verloren und der letzte Kaiser Wilhelm II. nach Holland geflohen. Mit ihm endete eine soldatisch-preußische Ordnung mit Unterdrückung politischer Meinungsfreiheit. Am 7. November 1918 floh der bayerische König Ludwig III. aus dem Hause Wittelsbach wie andere deutsche und europäische Monarchen auch.
Kurt Eisner, Vorsitzender eines Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrates, rief in der Nacht zum 8. November den republikanischen Freistaat Bayern aus, der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Berliner Reichstag herab die erste deutsche Republik. Eisner wurde erster bayerischer Ministerpräsident mit einer Regierung von Sozialisten und der USPD, einer pazifistischen Abspaltung der SPD. In Würzburg bildete die SPD einen Arbeiter- und Soldatenrat. Aus Russland hatte Lenins Revolution, die „Diktatur des Proletariats“, vom 7. November 1917 bereits Gesellschaftsteile in Deutschland durchdrungen. Vor allem in den Städten bildeten sich sozialistische und kommunistische Gruppen, anfangs noch ohne geordnete Führung.
Größtes Übel war die flächendeckende Arbeitslosigkeit, eine niederliegende Industrie, Repressalien der Siegermächte und die Wut deutscher Arbeiter und Soldaten auf die wirtschaftliche, gesellschaftliche Situation und auf die Kapitulation. Neben den etablierten Parteien wie Zentrum – in Bayern Bayerische Volkspartei (gegründet 1870) - und SPD (gegründet 1869) schossen Gruppen mit konservativen und linksradikalen Zielen aus dem Boden: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD, 1917), die Deutsche Demokratische Partei (DDP, 1918), die Deutsche Volkspartei (DVP, 1918), die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP, 1918) die Deutsche Arbeiterpartei (1919, Vorläufer der NSDAP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD, 1919).
Bayerische Ruhe vor dem Sturm
Die Aktivitäten der KPD um die Ex-SPDler und seit 1915 Sozialisten und Spartakisten Dr. Rosa Luxemburg und Dr. Karl Liebknecht, die am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet worden waren, bestärkten die Konservativen in der Sorge, das politische Chaos könnte auch nach Bayern schwappen. Doch die katholische und konservative Bayerische Volkspartei wurde bei der Landtagswahl am 12. Januar 1919 stärkste politische Kraft. Aber als Wahlverlierer Kurt Eisner zurücktreten wollte, wurde er am 21. Februar auf dem Weg zum Landtag in München erschossen.
Nach Auflösung des Landtags und der Ausrufung einer Räterepublik in der Landeshauptstadt am Montag, 7. April 1919, wich die Regierung dem Druck der Straße. Das Kabinett von Ministerpräsident Johannes Hoffmann (SPD) bezog am 9. April für vier Monate bis 17. August sein Exil im beschaulichen Bamberg, in der Neuen Residenz gegenüber dem Kaiserdom. Hier wurde auch am 14. August die Bayerische Verfassung präsentiert.
Die politische Auseinandersetzung radikalisierte sich – nicht nur in München, auch in Würzburg und in Lohr. In der Landeshauptstadt und in der Domstadt gab es Tote, als Freicorps, die die Kasernen verließen, unerbittlich gegen die Sozialisten und Kommunisten vorgingen.

Am 8. April wurde die Räterepublik auch in Lohr ausgerufen. Es gab keine Ausschreitungen bei den öffentlichen Versammlungen auf dem Marktplatz. Die Lohrer Räte besetzten zwar die „Lohrer Zeitung“, riefen aber die Bevölkerung „Arbeiter, Bürger, Bauern und Beamte“ auf, Ruhe und Ordnung zu bewahren.
Sie ergaben sich schließlich den demokratischen Bestrebungen der meisten Lohrer Bürger, die die gewählte Regierung Hoffmanns anerkannten. Am 12. April zog der revolutionäre Ausschuss seinen Ausruf der Räterepublik in Lohr zurück.
Arbeiterrat in Karlstadt
Die Karlstadter hatten am 12. Januar 1919 in den Bayerischen Landtag brav die Bayerische Volkspartei und die „gemäßigte SPD“, wie sie laut Liste antrat, gewählt. Im Frühjahr gab es aber auch einen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat unter der Führung von Vorsitzendem Gustav Büttner. In diesen unruhigen ersten Monaten nach dem verlorenen Krieg gründeten sich in deutschen Gemeinden Bürger-, Einwohner-, Volks- oder Sicherheitswehren, so auch in Karlstadt und in Mühlbach.
Die Ausrufung einer Räterepublik erreichte am Montag, 7. April 1919, die Karlstadter Bevölkerung. Um 4 Uhr morgens war das Telegramm vom revolutionären Zentralrat in München abgeschickt worden. Das „soeben um 11 Uhr 10 Minuten“ beim Bezirksamt Karlstadt eingelaufene Telegramm hatte Jean Dietz, Druck und Verlag in Karlstadt, umgehend gesetzt und gedruckt. Schließlich sollten 40 Minuten später, um 12 Uhr mittags, auch in Karlstadt die Glocken läuten, die öffentlichen Gebäude und Fabriken rot beflaggt sein und Plakate die Revolution verkünden. Man darf davon ausgehen, dass in der Kürze der Zeit die Revolution an diesem Tag an Karlstadt vorbeiging.
Weder Stadtratsprotokolle im Stadtarchiv noch die „Karlstadter Zeitung“ berichten von politischen Aufmärschen der Linken oder gar von Krawallen und Aufruhr vor jenem 7. April 1919. Auch in den folgenden Wochen und Monaten blieb Karlstadt von der bolschewistischen Revolution verschont. Die Bürger standen zwischen zwei „Regierungen“: der demokratisch gewählten und ins Exil nach Bamberg geflohenen Hoffmann-Regierung und den revolutionären Arbeiter- und Soldatenräten. Diese anfangs noch halbdemokratischen Räte wandten sich in den folgenden Wochen mit gewalttätigen Ausschreitungen auf der Straße und politischen Morden in Bayern immer mehr dem Kommunismus zu.
Bürgermeister ruft Karlstadter Männer
Der Stadtmagistrat und Bürgermeister Josef Fehmel wollten daher eine freiwillige Bürgerwehr aufbauen, die einige hundert Mann aufweisen sollte. Sie folgten, wie auch die Mühlbacher auf der anderen Mainseite, wohl mehr dem Druck der Regierung Hoffmann als dem vermeintlich gefährdeten Sicherheitsbedürfnis. Führer der Karlstadter Bürgerwehr war Eugen Wendel.

Ein Aufruf vom 23. April 1919 appellierte an alle Männer über 20 Jahre, sich einzureihen. 53 Männer schrieben sich in die Bürgerwehr ein. Am 17. Juni 1919 verfügte die Bürgerwehr über 233 Männer, von denen täglich neun ihren ehrenamtlichen Aufsichtsdienst in den Karlstadter Gassen verrichten sollten. Ihre Aufwandsentschädigung: drei Reichsmark. In der Mühlbacher Einwohnerwehr bildeten zehn „bestbeleumdete“ Männer das Ortsaufgebot.
Obwohl die bayerische Regierung im Zufluchtsort Bamberg, das Ministerium des Innern, in allen Gemeinden die Bildung von Freicorps und Volkswehren forderten, teilweise mit dem Vorschlag, die örtlichen Feuerwehren einzubinden, folgten von den heutigen zehn Stadtteilen nur Karlstadt und Mühlbach den Aufrufen im April. Über Meldelisten oder offizielle Einwohnerwehren, die unter Waffen standen, gibt es zu Stetten, Wiesenfeld, Karlburg, Gambach, Heßlar, Laudenbach, Stadelhofen und Rohrbach im Stadtarchiv keine Informationen.
Am 28. April 1919 gab die „Karlstadter Zeitung“ die Anordnung bekannt: „In Karlstadt sind sämtliche Wirtshäuser und öffentliche Vergnügungslokale um 10 Uhr abends zu schließen … Wer zwischen 11 Uhr und 4 Uhr nachts ohne Berechtigung auf der Straße getroffen wird, ist festzunehmen.“ Nur einige Berufsgruppen mit Berechtigungsscheinen bildeten die Ausnahme. Am 6. Mai kam das Standrecht hinzu.

Und so verrichteten 233 Karlstadter, zu neunt eingeteilt, den Nacht- und Wachdienst. Karlstadt war in vier Distrikte eingeteilt, in denen je zwei Männer von 23 bis 1.30 Uhr und bis 4 Uhr patrouillierten. Die nächtlichen freiwilligen Dienste verloren bald ihren Reiz bei den Männern, die auch ihrem Tagwerk nachgehen mussten. Nachts mal einen Schläfer auf der Bank zu wecken oder einen Spätheimkehrer aus dem Gasthaus wegen der Ausgangssperre zu verdonnern, war nicht ganz das Abenteuer, das für eine schlaflose Nacht entschädigte. Da waren ein Wasserrohrbruch und die Suche nach drei Verdächtigen am 4. August 1919 oder die Verhinderung eines Einbruchs am 20./21. Juni 1919 rühmliche Ausnahmen von nächtlicher Langeweile.
Das unentschuldigte Fernbleiben füllte die Protokolle, die die Wachhabenden täglich zu schreiben hatten. Schon am 12. Mai 1919 beklagte Zugführer Heinrich Wagner die „Interessenlosigkeit einer großen Zahl der Bürger“. Der Wachhabende Georg Ziegler stellte gar in seinem Rapport am 3. und 4. August 1919 die Frage nach der Notwendigkeit einer Bürgerwehr. So befasste sich der Wachhabende Gustav Büttner mangels Ereignisse im schlafenden Karlstadt sehr ausführlich mit dem Problem der drei nur verfügbaren Taschenlampen und fehlender Batterien.
Die paramilitärischen Gruppen waren den Alliierten ein Dorn im Auge. Damit die bewaffneten Männer nicht ständig im Visier der Siegermächte standen, strukturierten sie sich fast schon vereinsmäßig.
Auflösung und Neugründung
Am 20. August 1920 geschah in Karlstadt etwas Seltsames. Die Gründe sind in Stadtratsprotokollen nicht vermerkt und in der „Karlstadter Zeitung“ nicht nachzulesen. 32 erschienene Mitglieder lösten die Bürgerwehr auf und übergaben 566,11 Reichsmark an den Stadtrat, auszuhändigen an eine sich möglicherweise gründende Vereinigung mit denselben Zielen. Hatte sich die Bürgerwehr in Karlstadt in nächtlicher Langeweile aufgerieben? Folgte man in Karlstadt der Reichsregierung, die sich im Frühjahr 1920 der Anweisung der Siegermächte angeschlossen hatte, alle Volkswehren in Deutschland aufzulösen?

Einige Monate später – der Stadtrat nahm offiziell erst in einer Oktobersitzung Notiz von der Auflösung – geschah das zweite, heute Unerklärliche: Am 20. Dezember 1920 teilte der neue Führer, Baumeister Emil Popp jr., dem Stadtrat die am 10. Dezember erfolgte Gründung einer Einwohnerwehr mit und bat um Überweisung des Vermögens der Bürgerwehr. Der Stadtrat verweigerte dies, bis ihm am 25. Januar 1921 die endgültige Wahl der Führung der neuen Einwohnerwehr angezeigt wurde. Warum sich wenige Wochen nach Auflösung der Bürgerwehr eine Einwohnerwehr gründete, ist nicht überliefert.
Am 24. Juni 1921 wurden die Einwohnerwehren aufgrund des Drängens der alliierten Regierungen in Bayern aufgelöst. Die Reichsregierung gab bekannt: "Personen, die sich an einer der aufgelösten Organisationen als Mitglieder beteiligen, werden mit Geldstrafe bis zu fünfzigtausend Mark oder mit Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten oder mit Festung bis zu gleicher Dauer bestraft.“ Die Aufgaben der Einwohnerwehren übernahm nun ganz die bayerische Gendarmerie.
Literatur: Amkreutz-Götz: Einwohnerwehr schützte Karlstadt vor den Bolschewisten, Jahrbuch 2009/10.
Autorin: Martina Amkreutz-Götz war 37 Jahre Redakteurin der Main-Post in Karlstadt. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Geschichts- und Heimatvereins Mühlbach 1987 und Mitglied im Historischen Vereins Karlstadt.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart