Im Zentrum des Podiums im alten Lohrer Rathaus sitzen die Männer, wegen derer einige der rund 30 Gäste überhaupt hier sind. Einer von beiden ist groß gewachsen, mit dunklen Rastazöpfen und einem Kurzarmhemd in knalligem Grün und Schwarz. Der zweite von ihnen ist kleiner und schmalschultriger, das aschblonde Haar zum weißen Shirt lässt ihn unscheinbar wirken. Am Dienstagabend erzählen sie von ihrem Leben in der forensischen Psychiatrie am Sommerberg: der Abteilung des Lohrer Bezirkskrankenhauses (BKH), in dem psychisch kranke Straftäter leben.
Nicht nur ihr Äußeres trennt die beiden Patienten, sondern auch die Zeit: Sie sind 41 und 23 Jahre alt. Und doch sind sie durch die gemeinsamen Jahre in der Klinik Freunde geworden, sagt der Ältere von beiden. Sie glauben, so scheint es an diesem Abend, fest an eine bessere Zukunft. Unter anderem deshalb hat das BKH zur Diskussionsrunde eingeladen: Um den steinigen Weg in diese Zukunft für Außenstehende greifbar zu machen, der mitnichten bei allen Patienten gelingt.
Mit zwölf zu trinken angefangen
Der 23-jährige C. ist wegen seiner Drogensucht in Lohr. Namen und Gesichter, mit denen sich die Männer am Dienstag der Öffentlichkeit stellen, sollen in der Zeitung nicht stehen, entscheidet der Oberarzt der Forensik, Shafik Rihawi. Als er zwölf Jahre alt war, sei sein Vater gestorben, erzählt C. Er habe zu trinken begonnen, später seien Cannabis und Kokain dazugekommen. Beim Drogenhandel wurde er geschnappt. Das Gericht ordnete im Urteil eine Entzugstherapie an.
Jetzt, knapp zwei Jahre später und wenige Monate vor seiner Entlassung, stehe er im BKH auf Stufe D1, sagt C. Übersetzt heißt das: Er darf am Wochenende nach Hause. Shafik Rihawi ist ebenfalls Teil des Podiums und erklärt dem Publikum die Lockerungsstufen: Vom eingesperrten Start hinter Stacheldraht über begleiteten Ausgang hin zu unbegleitetem Freigang mit Übernachtung. Jede Woche, sagt Rihawi, bespreche ein Team aus Betreuern, Ärzten, Pflegern und Therapeuten, welche Patienten die Stufe wechseln. Auch ein Rückschritt sei möglich und komme immer wieder vor, wenn Patienten gegen Regeln und Auflagen verstoßen – zum Beispiel das Drogenscreening nach der Rückkehr in die Klinik.
Bönsch: "Hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben"
Der Einblick in das Leben der Patienten ist nicht der einzige Anlass der Veranstaltung. Die Klinikleitung will mit der Bevölkerung diskutieren, was die Forensik am Sommerberg für die Stadt Lohr bedeutet. Von Sicherheitsaspekten ist vorab die Rede, ebenso wie von möglichen Vorteilen der Klinik für die Stadt – als Arbeitgeber und Aushängeschild. Deshalb sitzen der 2. Bürgermeister Dirk Rieb und der stellvertretende Chef der Lohrer Polizei Florian Daube mit auf dem Podium. Links der Patienten bilden sie optisch die Flanke aus Gesellschaft und Gesetz, mit der forensische Patienten häufig schon ein Leben lang im Konflikt stehen. Rechts der Patienten sitzen Rihawi und Klinikdirektor Dominikus Bönsch.
Die Frage danach, wie sicher die Allgemeinheit vor den forensischen Patienten ist, bleibt an diesem Abend jedoch unerwartet unberührt – trotz des jüngsten Ausbruchs im Mai dieses Jahres. Nur vereinzelt stellen Besucher in diese Richtung Fragen: Wie sicher ist das Gebäude? Wie ist das Personal für den begleiteten Ausgang ausgebildet? "Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben", sagt Klinikleiter Dominikus Bönsch.
Zumal die Forensik im Gegensatz zum normalen Vollzug Kompromisse zwischen Schutz und Behandlung eingehen müsse. An einigen Stellen wünsche sich die Klinik bauliche Verbesserung. Eine Erweiterung der stark überbelegten Abteilung sei seit Jahren beantragt, bei einer Bewilligung wolle die Klinik auch das Sicherheitskonzept aufrüsten. Ins Detail geht Bönsch an dieser Stelle nicht, es fragt aber auch niemand nach.
Florian Daube von der Lohrer Polizei liefert Zahlen: Ungefähr dreimal pro Jahr werde die Polizei wegen einer Körperverletzung gerufen, die ein Forensikpatient an Unbeteiligten begangen hat. "Bisher ohne schwere Folgen", sagt Daube. Auch hierzu bleibt die Diskussion, auf die sich die Veranstalter eingestellt hatten, aus.
Warnzeichen früh erkennen
Neben Entzugspatienten leben in der Forensik auch solche, die über den "63er" dort gelandet sind. Gemeint ist Paragraf 63 im Strafgesetzbuch. Darüber werden zumeist Straftäter in der Psychiatrie untergebracht, die veranlasst von einer psychiatrischen Krankheit schwere Gewaltverbrechen begangen haben. Der 41-jährige J. ist so über diesen Paragrafen nach Lohr gekommen. Auch er habe mit zwölf zum ersten Mal Drogen genommen, sagt er, vom Leben seitdem erzählt er nicht viel.
Nur: Er kam in den Knast, dort wurde er gewalttätig, landete in Lohr. Ein Gutachter habe eine sogenannte degenerative Schizophrenie bei ihm festgestellt – eine Krankheit, bei der die Grenzen zwischen Einbildung und Realität, zwischen Ich und Außenwelt zunehmend verschwimmen. "Mit mir hat gar nichts mehr gestimmt", sagt J. Heute gehe es ihm entgegen seiner Prognose so gut wie noch nie – am Dienstag jedenfalls ist ihm die Erkrankung nicht anzumerken.
Auch für Patienten im 63er gelte das Ziel: So viele wie möglich in ein geregeltes Leben zurückzuholen, sagt Arzt Rihawi. In der Therapie sprächen sie über die Straftat und darüber, was ihre Krankheit damit zu tun hat. So sollen sie später Warnzeichen früh erkennen.