
Am 8. September ist ein 14-Jähriger auf dem Gelände des Nägelsee-Schulzentrums in Lohr (Lkr. Main-Spessart) erschossen worden. Die Gewalttat hat weit über Lohr hinaus für Erschütterung gesorgt. Sowohl das Opfer als auch der mutmaßliche Täter besuchten die Lohrer Gustav-Woehrnitz-Mittelschule. Rektorin Susanne Rinno, Konrektorin Ingrid Otto und Schulpsychologe Christian Obermeier sprechen darüber, wie die Schulfamilie unterstützt wurde, wie dem Opfer künftig gedacht werden soll und warum sie ihre Schule nicht als unsicheren Ort erleben.
Susanne Rinno: Als die Meldung kam, dass es einen gewaltsamen Tod auf dem Nägelsee-Schulgelände gegeben hat, war das für uns alle ein Schock. Wir haben natürlich an die betroffenen Familien gedacht. Wir alle waren erst mal in einem Ohnmachtszustand. Solche Vorkommnisse waren bis dahin immer weit weg. Man hat sie aus den Medien gekannt und plötzlich sind sie sehr nah. Die letzten Wochen waren nur möglich, indem ein funktionierendes Netzwerk von Stadt, Polizei, dem Kriseninterventions- und -bewältigungsteam bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen KIBBS und den kirchlichen Krisenteams NOSIS und KiS vorhanden war, das uns und die Schulfamilie getragen hat.
Rinno: An dem Freitagabend, an dem wir davon erfahren haben, ist das KIBBS-Team sofort tätig geworden.
Christian Obermeier: Das ist in der Regel eine Betroffenheit bei einer Altersgruppe von Menschen, die keine oder nur wenig Erfahrung mit Trauer hat. Dementsprechend ist es für die Kinder und Jugendlichen häufig schwierig, mit diesen Gefühlen umzugehen und auch zu erleben, dass diese Gefühle innerhalb der Schule, innerhalb einer Klasse, innerhalb einer Gruppe auch vielfältig sein können. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich, von Wut bis hin zu ganz tiefer Traurigkeit und Schock.
Rinno: Auswirkungen hat das wirklich in allen Bereichen: auf die Kolleginnen und Kollegen, die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und das Schulzentrum, weil wir hier mit drei Schulen unter einem Dach sind.

Obermeier: Wir waren in der Regel mit 13 Teammitgliedern und den kirchlichen Krisenteams KiS und NOSIS im Einsatz und haben Gespräche mit Lehrkräften, Klassen und einzelnen Schülern geführt. Es gab Tage, da waren es bis zu 90 Gespräche. Große Unterstützung bekamen wir auch von den Schulpsychologinnen, der Jugendsozialarbeit und den Beratungslehrkräften, die hier vor Ort tätig sind.
Rinno: Wir hatten insgesamt bis zu 20 Personen im Haus, die uns im Prinzip den Schulstart möglich gemacht haben.

Obermeier: Zunächst wurde den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben zu beschreiben, was in ihnen selbst, in der Klasse, in der Gruppe vorgeht und dass es okay ist, dass jeder unterschiedlich auf so eine Gewalttat reagiert. Dann haben wir den Lehrkräften und Schülern Bewältigungsstrategien an die Hand gegeben. Wie kann man mit seinen Gefühlen umgehen? Wie kann man es vielleicht auch schaffen, dass man ein stückweit Abstand zu den Gefühlen und Gedanken gewinnt?
Wenn die Kinder stärker betroffen sind, wurde auch auf weitere Unterstützungssysteme beziehungsweise Fachärzte hingewiesen. Es gab hier in der Schule eine unglaubliche Offenheit auf allen Ebenen, sowohl bei der Schulleitung als auch bei den Lehrkräften für Hilfe von außen.
Ingrid Otto: Seit wir davon erfahren haben, haben wir uns ganz viel im Kollegium ausgetauscht. Für uns war ganz wichtig, dass bei der ersten Lehrerkonferenz das ganze KIBBS-Team mit ins Lehrerzimmer reinkam und der erste Satz war: "Sie sehen, Sie sind nicht allein!" Das hat sehr gut getan.
Rinno: Das bestehende System hat nur funktionieren können, weil ganz viel Unterstützung von außen da war. Und weil an dem Wochenende, an dem die Tat passiert ist, ein ganz enger Austausch zwischen der Stadt, der Polizei und der Kirche stattgefunden hat. Wir haben versucht, gegenseitig Sachstände auszutauschen, sodass alle immer die gleichen Informationen hatten und wir gemeinsam agieren konnten. Alle Kollegen sind im Vorfeld geschult worden. Wir hatten am Montag eine Mini-Schulung durch das KIBBS-Team, wie wir am Dienstag zum Schulanfang in den Unterricht gehen. Alle Kolleginnen und Kollegen haben in ihren Klassen die Thematik aufgegriffen und die Schülerinnen und Schüler abgeholt, um dann wiederum aufs KIBBS-Team zuzugehen und mit ihm zusammen Kinder und Jugendliche aufzufangen. Da wurde nichts dem Zufall überlassen.
Rinno: Wir können noch einen Schritt weiter vor gehen. Am Samstag war unser erstes Treffen mit unserem schulinternen Krisenteam. Wir haben gemeinsam überlegt, welche Jugendlichen den direkt Betroffenen emotional besonders nahe sind. Der Auftrag an die Kollegen für Dienstag war: Schaut, ob wir hier besondere Unterstützung brauchen. Wie können wir tätig werden? Dann sind wir entweder direkt auf die Schülerinnen und Schüler zugegangen oder haben gesagt: Hier ist ein Angebot, da könnt ihr jederzeit hingehen.
Obermeier: Und zwar nicht nur für diese Personengruppen, sondern auch für Kinder, die beispielsweise gerade in einer schwierigen persönlichen oder familiären Situation sind. Das Geschehene triggert sie im Zweifelsfall und sie brauchen Unterstützung. Die Lehrkräfte haben die Informationen über ihre Schülerinnen und Schüler zusammengetragen und mitgeteilt: Da könnte es vielleicht eine Situation geben, in der man aktiv ein Angebot machen muss.

Obermeier: Ja. Das war schon relativ ähnlich zu dem, was die Kinder in die Schule an Emotionen und Empfindungen mitgebracht haben. Das war erst mal auch dieses Gefühl dieser starken Betroffenheit. Wie gehen wir damit um, dass unsere Kinder so betroffen sind?
Rinno: Der Elternbeirat war vom ersten Moment an an unserer Seite. Es war ein sehr enger Austausch mit den Elternbeiratsvorsitzenden. Der Elternbeirat hat uns die ganzen Wochen durch sehr konstruktiv unterstützt. Wir hatten jetzt Neuwahlen und haben alle Klassenelternsprecher-Posten und den Elternbeirat mit alten wie auch neuen Elternbeiräten besetzt. Es gibt ein ganz aktives Tun, Schule weiter zu gestalten. Dafür sind wir sehr dankbar.
Obermeier: Wir sind permanent im Hintergrund. Wenn es Bedarf gibt, kann die Schule uns jederzeit hinzuziehen. Wir sind jetzt nicht mehr aktiv mit Kräften da, sondern im Coaching.
Rinno: Schulpsychologinnen sind vor Ort und die Jugendsozialarbeiter-Stelle ist über die Caritas temporär ausgeweitet worden. Wir haben bis Weihnachten eine Besetzung mehr, um Thematiken, die aufploppen, gut abfedern zu können.
Rinno: Wir erleben die Schule nicht als unsicheren Ort.
Obermeier: Wenn jemand das Gefühl der Unsicherheit hat, wird das hier in der Schule sehr ernst genommen. Ich glaube, das hat ganz viel damit zu tun, dass in dieser Schule viel miteinander geredet wird. Wir haben so viele Menschen genannt, die zur Schulfamilie gehören und die sind im Austausch. Das bildet Vertrauen. Das Vertrauen wiederum ermöglicht es, sich gegenseitig über die Gedanken und Gefühle auszutauschen und gemeinsam zu handeln.
Rinno: Grundsätzlich kommt uns zugute, dass wir das Klasslehrer-Prinzip haben. Die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer verbringen sehr viel Zeit mit ihren Schülerinnen und Schülern und haben einen guten Blick auf die Kinder und nehmen sie auch wahr.
Otto: Wenn ich schon von vorneherein weiß, wer eher introvertiert ist, muss ich vielleicht zwei, drei Mal versuchen, ein Gespräch zu führen, bis ich merke: Jetzt komme ich ein bisschen durch. Man darf einfach nicht aufgeben.
Rinno: Wir stehen in Kontakt mit der Familie des Schülers. In den kommenden Wochen werden wir der Familie die Andenken, die wir bekommen haben oder die am Gedenkort abgelegt wurden, und das Gedenkbuch übergeben. Jetzt steht eine Kerze und ein kleines Bäumchen bei uns an der Verwaltung. In Absprache mit der Familie und dem Nägelsee-Zweckverband als Sachaufwandsträger wird ein Baum an der Schule gepflanzt.