
„Der Vernichtungsprozeß durchlief zwei Phasen: Emigration (1933-1940) und Ausrottung (1941-1945).“ So beschrieb Raul Hilberg nüchtern das Schicksal der deutschen Juden in seinem berühmten Werk über "Die Vernichtung der europäischen Juden." Wem bis Oktober 1941 die Ausreise nicht gelang, wurde mit einem Ausreiseverbot konfrontiert, deportiert und ermordet. Über 165.000 Juden allein im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 wurden so Opfer des Holocaust.

Für „Juden“ sollte es nach dem Willen der neuen Machthaber kein Platz mehr in Deutschland geben. „Juda verrecke!“ war eine gängige Hetzparole der SA 1933. Arthur Kahn aus Gemünden war eines der ersten Opfer dieser menschenverachtenden Politik. Nach willkürlicher Verhaftung in Nürnberg wurde er mit anderen Mithäftlingen am 12. April 1933 im KZ Dachau „auf der Flucht“ erschossen.
Im Grunde fing der Holocaust mit diesen Morden an, wie die New York Times einmal schrieb. Solche Fälle wirkten wie ein Fanal zur Auswanderung. Zirka 60.000 vor allem auch junge Menschen machten sich schon im 1. Halbjahr 1933 auf den Weg etwa nach Palästina, wo viele eine neue Heimstatt für das jüdische Volk sahen. So auch die drei Kinder von Simon Strauß, dem langjährigen Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Lohr. Auch die gesamte Familie Stern aus der Kleinen Kirchgasse zog dorthin.
Eine schwere Entscheidung
Das Gros der jüdischen Bevölkerung im Reich hoffte allerdings immer noch, die antisemitischen Ausschreitungen und Übergriffe würden sich legen. Man könne sich bei Loyalität und Kooperationswilligkeit sicher mit dem Regime arrangieren. Die damalige jüdische Bevölkerung war hochassimiliert und integriert. Sie war davon überzeugt, dass Deutschsein und Judentum miteinander vereinbar sind.
Viele gehörten zur wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und intellektuellen Elite des Reichs und waren wohlsituiert. Niemand hätte damals auch nur im Traum daran gedacht, die Heimat, als die sie Deutschland empfanden und für die sie im ersten Weltkrieg ihren Blutzoll entrichtet haben, zu verlassen und alles aufzugeben. Ihre Hoffnung stellt sich als falsch heraus. Die daraus resultierende Bereitschaft, doch Deutschland zu verlassen, vollzog sich allerdings in Schüben, die auch der Stimmung entsprach. Diese schwankte bis 1938 zwischen Gehen und Bleiben.
Emigration erst in Nachbarländer, später dann auch nach Übersee
In der Hoffnung, vielleicht doch bald zurückkehren zu können, wichen viele in die unmittelbaren Nachbarländer aus, um die Entwicklung abzuwarten: in Länder wie Frankreich, Belgien und die Niederlande. Die Schweiz gewährte erst während des Krieges jüdischen Flüchtlingen vorübergehend Aufenthalt.
Die rigorose Implementierung der Nürnberger Rassegesetze nach den olympischen Spielen in Berlin 1936, wo sich das Regime ein letztes Mal weltoffen gab, löste jedoch eine Ernüchterung und Desillusionierung aus, die zu einem weiteren Emigrationsschub führte. Er war geplanter und entschlossener als der erste und zielte auch erstmals verstärkt auf außereuropäische Länder. Die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise offenbarten jedoch, dass sich auch klassische Einwandererländer wie die USA zugeknöpfter als früher zeigten. Das machte auch die Flüchtlingskonferenz im französischen Evian im Juli 1938 deutlich, die von Präsident Roosevelt einberufen worden war.
Nur wenige Monate später - nach der Reichspogromnacht im November 1938 - schlug die Stimmung verständlicherweise denn auch in ein „Rette sich wer kann“ um. Nachbarstaaten öffneten zwar unter dem Eindruck der Reichspogromnacht ihre Grenzen für sogenannte “Kindertransporte“, so etwa Großbritannien für 10.000, die Niederlande für 2000 Kinder. Weitere Transporte folgten. Lotte Stern aus Lohr beispielsweise wurde von ihrem besorgten Vater mit einem Kindertransport 1938 in die Niederlande geschickt, wo sie weitgehend in Waisenhäusern lebte.

Insgesamt blieb es aber bei der in Evian vereinbarten Zurückhaltung unter den klassischen Einwanderländern. Die größten Chancen hatten noch die Antragsteller, die Hilfe von Verwandten in den jeweiligen Zielländern hatten, um die schier unüberwindbaren Einwanderungsbarrieren doch zu überwinden. Das erklärt auch, dass die Lohrer jüdische Gemeinde, die zu über 80 Prozent das Land verlassen konnte, selbst in dieser kritischen Zeit noch vielfach nach Amerika flüchten konnte.
Etwa 85.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland erreichten bis September 1939 noch die Vereinigten Staaten. Selbst 1940/1941 gelang nochmals wie durch ein Wunder über 30.000 Menschen die Flucht. Dies geschah oft auf abenteuerlichem Wege wie über Russland, China und Japan. Nach Lateinamerika ging es über Spanien und Portugal. Dabei galt es oft die Pyrenäen zu überwinden. Aber auch die Schweiz bot zirka 20.000 bis 30.000 Juden während der Kriegsjahre vorübergehenden Schutz.
Die Flüchtenden waren bei der Ausreise in der Regel zudem alle „bettelarm“, wie wir beispielsweise in einem Auswandererbrief der Lohrer Helene Rothschild wörtlich lesen. Nazideutschland hat ihnen buchstäblich das letzte Hemd ausgezogen. Die sogenannte „Arisierung“ von Geschäften und Häusern, die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ und andere Abgaben sollten genau diesen Effekt haben.
Die gescheiterten Versuche, Nazideutschland zu entfliehen
Für die jüdischen Flüchtlinge der 30er Jahre in die Niederlande sowie nach Belgien und Frankreich drehte sich freilich mit der deutschen Besetzung dieser Länder 1940 das Blatt auf tragische Weise. Wer bis dahin noch nicht anderswo Zuflucht gesucht hat, saß plötzlich fest. Viele konnten noch fliehen. Viele nicht. Die schon erwähnte Lotte Stern aus Lohr gehörte zu den ersten, die 1942 als elternloses Kind nach Ausschwitz deportiert wurde. Dort gebe es auch Waisenhäuser, sagte die Lagerleitung des niederländischen Sammellagers Westerbork.
Die gesamte Familie Friedrich Freimark aus Marktheidenfeld mit Mutter Hermine erlitt das gleiche Schicksal. Ebenso der gebürtige (Lohr-)Steinbacher, seit 1935 in Rotterdam wohnhafte Benno Kahn mit Frau. Dem in Paris lebenden Lohrer Alfons Söder wurde seine jüdische Frau Margot, geb. Steinicke, aus Angermünde vor seinen Augen verhaftet und deportiert. Allein über 20.000 Flüchtlingsschicksale dieser Art verzeichnet das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft für Frankreich, Belgien und Niederlande.
Die Dokumentation erfolgreicher Emigrationsfälle
Wem die Flucht gelang und wer ein sicheres Aufnahmeland fand, lässt sich freilich nur schätzen. Das beigefügte Schema, das auch Zielländer aufzeigt, beruht auf solchen Schätzungen.

Während das eben genannte Gedenkbuch des Bundesarchivs auch die geschilderten tragischen Fälle gescheiterter Auswanderungen nach Ländern geordnet lückenlos dokumentiert, gibt es solche Namenslisten für die geschätzten 330.000 geglückten Emigrationen ab 1.1.1933 aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1933 nicht. Diese Zahl 330.000 ergibt sich aus der schon anfangs genannten Zahl von zirka 165.000 Holocaust-Opfern und der Zahl von über 60.000, um die sich eine rapide alternde jüdische Bevölkerung im Reich allein schon durch den sogenannten „Sterbeüberschuss“ in den 30er Jahren verringert hat. Der Prozentsatz der erfolgreichen Auswanderungen liegt bei einer jüdischen Bevölkerung von 560.000 Anfang 1933 somit bei etwa 60 Prozent.
Selbst bei kleineren überschaubaren jüdischen Kultusgemeinden gestaltet sich daher die Klärung der Frage, ob die Familien in ein sicheres Land fliehen konnten, bisweilen schwierig. Manchmal ist es eine buchstäbliche Zitterpartie. In den sogenannten „Judenkarteien“ der Stadtarchive steht dazu meist nichts oder nur die Abmeldung in eine andere Stadt. Von geradezu unschätzbarem Wert sind für die USA daher die Nationalarchive in Washington und New York, wo viele Einreise-relevanten Informationen online gestellt sind: beispielsweise Passagierlisten und Einbürgerungsanträge.
Selbst in Zensusunterlagen wird man fündig. Die Anträge enthalten sogar oft Passfotos der Antragsteller. Da sie mit einem Visum in die USA eingereist sind, wurden alle Staatsbürgerschaftsanträge soweit ersichtlich auch positiv beschieden. Niemand wurde zurückgeschickt.
In den meisten Gemeinden mit jüdischem Bevölkerungsanteil dürften solche Recherchen natürlich stattgefunden haben. Aus Marktheidenfeld etwa gelang nach dortigen Angaben 53 Prozent der jüdischen Mitbewohner die Flucht, ebenfalls aus Gemünden. Bei den anderen Gemeinden im Landkreis dürfte die Größenordnung eine ähnliche sein. Aus Lohr schafften es wie erwähnt über 80 Prozent, sogar vorwiegend in die USA.
Freilich sind auch Briefe der Ausgewanderten wertvolle Quellen. Sie belegen, natürlich, dass sie sicher angekommen sind. Sie belegen aber auch den Regelfall: wer Deutschland oft Hals über Kopf verlassen musste, hatte meist auch keine hinreichenden Sprachkenntnisse und erst recht kein Geld. Auch gab es oft keine Anerkennung ihrer Ausbildung im Aufnahmeland. Der soziale Abstieg und auch das Heimweh waren vorprogrammiert.

Noch nie habe er seinen Großvater Ludwig Rothschild so zufrieden lächeln gesehen wie auf einem Foto vor seinem Elternhaus in Lohr, kommentierte dessen Enkel ein Bild, das ihm zugeschickt worden ist. Ihm seien bei Betrachtung des Fotos die Tränen gekommen, als ihm die Traurigkeit seines Großvaters das erste Mal bewusst geworden sei, der seine Heimat verlassen musste. Der gebürtige Lohrer war in Berlin zu Ansehen und Wohlstand gekommen und 1938 mit der Familie ausgewandert. Er hätte sich in den USA anfangs mit dem Verkauf von Filzblumen, die seine Frau fertigte, an Haustüren durchschlagen müssen.
Sicherlich: Oft erst die Kinder schlugen wirklich Wurzeln und empfanden ihr Zuhause, das für die Eltern neu war und oft fremd blieb, als Selbstverständlichkeit. Dennoch empfanden alle, mit denen ich während meiner Berufstätigkeit im Auswärtigen Dienst in Israel und den USA sprach - Überlebende der KZs wie Überlebende, die aus Deutschland vor 1941 flüchten konnten – ein Gefühl der tiefen Genugtuung. Mit ihrem Überleben und mit der heranwachsenden Generation ihrer Kinder hätten sie gezeigt, dass Hitler, der sie vernichten wollte, dieses Ziel nicht erreicht hat. Das half auch etwas, sich mit dem Schicksal zu versöhnen.
Zum Autor: Dr. iur. Wolfgang Vorwerk, Generalkonsul a.D., publiziert seit 1978 zu historischen Themen des Spessarts. Seit November 2017 ist er Vorsitzender des Geschichts- und Museumsvereins Lohr.
Literatur: Gertjan Brock, Emigration 1933-1942; Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main, 1990, 1. Band; Mit zahlreichen Beispielen: „Ein Wiedersehen gibt es nur im Himmel“ Jüdische NS-Opfer aus Lohr. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Raumes Lohr, Ausgabe 2017 (Schriften des Geschichts- und Museumsvereins Lohr a. Main e.V.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter /dossier/geschichte-der-region-main-spessart