Der Rohbau steht schon mal. Alessandra Schnarr, Anja Riegel, André Brönner und ihre drei zukünftigen Mitbewohner wirken aufgeregt, als sie das Dachgeschoss des Neubaus An den Birken 1 betreten. Hier oben, mit tollem Ausblick auf Marktheidenfeld und einer großen Dachterasse, wollen die sechs Menschen mit Handicap nächstes Jahr einziehen. Es wäre Marktheidenfelds erste inklusive Wohngemeinschaft: so viel wie möglich im Alltag selbst übernehmen, jeder macht das, was er oder sie gut kann. Und die Mitarbeiter der Lebenshilfe unterstützen nur dort, wo es nötig ist. Es wird ein Projekt mit Modellcharakter sein.
Alessandra Schnarr gefällt, dass die Wohnung so nah an der Stadt liegt. Dann könne sie mit Anja immer Eis essen gehen, sagt sie. Die zukünftigen Mitbewohner, sie kennen sich bereits gut. "Wir arbeiten zusammen in den Mainfränkischen Werkstätten und haben auch schon Ausflüge zusammen unternommen", erzählt Anja Riegel. Bisher lebte die 50-Jährige bei ihrer Familie in Erlenbach. Ihr Auszug ein großer Schritt für sie – und ihre Eltern.
Lange Suche nach einem geeigneten Gebäude für die WG
Schon bald fünf Jahre arbeitet der Verein "Gemeinsam Wohnen mit Handicap" daran, die inklusive WG einzurichten. "Klassische Wohnheime für Menschen mit Behinderung haben selten freie Plätze und außerdem ein sehr starres Konzept", erklärt Vereinsmitglied Jürgen Brönner. Die Wohngemeinschaft soll freier sein, die Eigeninitiative der Bewohner fördern.
In der WG wird der Betreuungsbedarf der Menschen mit Behinderung gebündelt, und so stand auch schnell fest, dass es eine Sechser-WG sein muss, damit der Betreuungsschlüssel passt. Tagsüber gehen alle Bewohner arbeiten, abends und am Wochenende werden sie dann von einer Betreuungsperson in der Wohnung unterstützt. Nachts ist die WG auf sich gestellt.
Lange suchte der Verein nach einer Immobilie, die den Anforderungen einer Sechser-WG entspricht. Als sie vom Wohnahausneubau An den Birken hörten, gingen sie auf die Stadt zu. "Unsere Idee wurde mit viel Wohlwollen aufgenommen", erinnert sich Brönner. Die Wohngemeinschaft wurde als zusätzliches Stockwerk auf den geplanten Neubau aufgesetzt.
Mit- und Selbstbestimmung steht im Fokus
Brönner und seine Frau Claudia bereiten ihren 27-jährigen Sohn André schon auf das Leben allein vor. "Wir üben zum Beispiel kochen und Wäsche waschen", erzählt Claudia Brönner. André habe ihnen immer gespiegelt, dass er sich wünscht, selbstständig zu wohnen. Claudia Brönner ist erleichtert, dass das WG-Projekt nun Form annimmt. "Wir Eltern werden ja auch nicht jünger. Ich bin froh, dass er jetzt diesen Schritt machen kann und nicht später in einer Notsituation in eine neue Umgebung muss."
Bei der ersten Besichtigung im Rohbau haben die sechs zukünftigen Mitbewohner eine große Frage zu klären: Wer bekommt welches Zimmer? Alle Zimmer sind ungefähr gleich groß, mit großen Fenstern, immer zwei Personen teilen sich ein Badezimmer. Der "Mitbestimmungsrat" des Vereins tagt, über den Grundriss der Wohnung gebeugt, und diskutiert die optimale Zimmeraufteilung. Anja Riegel und Alessandra Schnarr bekommen die zwei Zimmer auf der einen Seite des Wohnbereichs, die vier männlichen Mitbewohner nehmen den langen Flur rechts des Eingangs, das steht schon fest.
Zu Laurenzi 2022 könnte die Wohnung fertig sein
Der Mitbestimmungsrat ist eine weitere Besonderheit des Vereins und der Wohngemeinschaft. "Wir wollten nicht, dass ein Vorstand für alle entscheidet – wir wollten aber auch nicht für jede Entscheidung alle Vereinsmitglieder befragt müssen", erklärt Jürgen Brönner. Die Lösung: Der Mitbestimmungsrat besteht aus den sechs Bewohnern mit Handicap und jeweils einem gesetzlichen Betreuer. In dieser Runde war dann auch die Zimmeraufteilung schnell ausgeknobelt.
Rechtzeitig zur nächsten "echten" Laurenzi-Messe 2022 könnte die Wohnung fertig sein, stellte der Zweite Bürgermeister Christian Menig den zukünftigen Bewohnern in Aussicht. In zwei Wochen soll Richtfest sein, den Richtbaum hat der Stadtförster schon organisiert. Ein nächster Meilenstein auf dem Weg in eine selbstbestimmte Wohnform.
Diesen und noch viele weitere Texte zum Thema finden Sie gebündelt in unserem neuen Online-Dossier "Bauen und Wohnen in Main-Spessart".