2009 in einem Krankenhaus: Ein Mann tobt und schreit, flüchtet sich in einen Raum und bricht hinter der Tür zusammen; von Weinkrämpfen geschüttelt. "Keiner meiner Kollegen hat sich zu mir rein getraut", so Max Kerst (Name geändert), der an seinem Arbeitsplatz in der Klinik als besonnener und humorvoller Mensch beliebt ist.
Wie er es damals nach Hause geschafft hat, weiß der zu dem Zeitpunkt 38-Jährige nicht mehr. Dort angekommen verschanzt er sich im Schlafzimmer. Er habe sich geschämt, kam sich verloren vor; wie aus der Welt gefallen. "Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder das Bett zu verlassen."
Endogene Depression heißt seine Krankheit. Sie ist eine der vier Arten von Depression. Eine Störung, die von innen kommt und die - soweit man heute weiß - keine organische Ursache hat.
Typische Symptome schleichen sich bei Kerst in der Pubertät ein: Selbstzweifel, Antriebslosigkeit, extreme Stimmungsschwankungen. Aber primär eine tiefe Traurigkeit, die keinen konkreten Ursprung hatte. "Es war wie ein tiefes Brummen im Hintergrund." Oft habe er vor dem Spiegel gestanden und sich gefragt, was an ihm anders sei. Leute hätten ihn als komisch bezeichnet – und zwar nicht im Sinne von lustig.
Lange Jahre lebte er so: Abitur, Bundeswehr, Beruf, Heirat. Doch mit der Geburt seines Kindes rutscht er in eine Krise, dessen Tiefe ihn überwältigt. Eingesperrt in einen Zwiespalt zwischen Vaterfreude und Verlustangst, betrachtet er das geschlossene Mutter-Kind-System von außen; und findet keinen Zutritt.
Er zieht sich zurück, flieht in Einsamkeit und Arbeit. "Ich bin Schritt für Schritt weiter zurückgetreten, bis da nur noch ein Abgrund war."
Der Zusammenbruch zwingt ihn zur Entscheidung: Selbstmord, oder Therapie. "Ich habe mich für das Leben entschieden." Er schafft es aus seinem Bett aufzustehen, das Haus zu verlassen, sucht Hilfe bei seinem Hausarzt. Der überweist ihn zu einem Psychotherapeuten und Kerst beginnt eine Verhaltenstherapie.
Er erklärt: "Ein Gesunder sieht eine Hürde, tritt einen Schritt zur Seite und geht daran vorbei." Als Kranker jedoch sehe er Hindernisse wie durch eine Lupe. "Es existiert nichts außer diesem Problem. Es ist riesig, nimmt alles ein und ich weiß: ich komme auf keinen Fall daran vorbei." In der Therapie hat er gelernt, Situationen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Eine Fähigkeit, die Depressiven abhanden gekommen ist.
Kerst führt an, warum es für Betroffene so schwer ist, sich in Behandlung zu begeben. Zum Einen: keine Impulse oder Hilfe von außen. "Du lässt niemanden merken, wie es Dir geht. Also hilft Dir keiner." Man verhalte sich sozial angemessen und schwimme irgendwie mit. Auch selbst erkenne man nicht, wie es einem gehe. "Das neue Schlecht ist das neue Normal." Und zuletzt komme ins Spiel, dass psychische Erkrankungen ein Tabu seien.
Deswegen geht er selbst offen mit seiner Erkrankung um. Der Freundeskreis, Familie und Arbeitskolleginnen und -kollegen wissen von seiner Depression. Dabei merkt er immer wieder, wie gut seine Maske sitzt: "Ich dachte nie, dass du etwas damit zu tun hast!", höre er oft.
Eine Vorreiterrolle wie seine, sei enorm wichtig, meint er. Er erlebe immer wieder, dass Freunde auf ihn zugingen und um Rat fragten. Je mehr Menschen eine solche Tür öffnen, desto mehr Betroffenen kann geholfen werden, ist er überzeugt.
Die Weihnachtszeit, in der gute Laune und Geselligkeit erwartet werden, sei für Depressive besonders hart. "Gut" sei die gewünschte Antwort auf die Frage "Wie geht’s dir?" Kerst hingegen antwortete früher oft "geht so – und dann ging es mir richtig mies." Er hätte sich von seinen Mitmenschen mehr ehrliches Interesse gewünscht; statt unverbindlicher Floskeln. Ein einfaches "Was ist denn konkret los?" oder "Erzähl doch mal genau!"
Wer keinen Menschen für persönliche, intensive Gespräche habe, so Kerst, der solle es im Internet versuchen. Neben Informationen und Selbsttests gebe es sogar Apps mit spezialisierten Chatbots. Was seltsam klingt, meint er, könne eine große Hilfe sein. Denn der Bot mit seinen vorgefertigten Fragen macht das, was viele Menschen nicht tun: Nachbohren, sich nicht abschütteln lassen, und sich dem Kranken immer wieder nähern. Denn Depressive, so der 50-Jährige, hätten schlicht nicht die Kraft, von sich aus auf andere zuzugehen.
Angst kann ein Hinweis auf eine Depression sein
Aktuell beteiligt er sich an der Discover-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Mit den gesammelten Daten soll belasteten Menschen besser geholfen werden - "generell, und vor allem in Zeiten besonderer Herausforderungen durch das Corona-Virus", so die Webseite.
Die Pandemie, meint Kerst, bereite ihm zwar Stress auf der Arbeit, seine Symptome jedoch habe sie nicht verschlimmert. Angst könne jedoch ein Hinweis auf eine Depression sein. Nämlich dann, wenn die selbst auferlegten Einschränkungen das Leben unmöglich machten.
Sein Appell an Betroffene lautet, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. "Depressionen sind gut behandelbar" und sie zu ertragen sei kein Zeichen von Mut oder Durchhaltevermögen.
Kerst hat sich mit den Hoch- und Tiefphasen in seinem Leben arrangiert. In der Therapie hat er gelernt, wie er dem Fall ins Bodenlose vorbeugen kann. Wo vorher in ihm eine Landschaft war, gibt es heute Wegweiser, Straßen und Wege, die ihn aus den dunklen Tälern herausführen.