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MAIN-SPESSART
Ein Gefühl wie unter Wasser
Diagnose Depression: Keine Krankheit ist so aktuell, so vielschichtig und so schwierig zu verstehen – ein Einblick in die Geschichte eines Betroffenen.
Von unserem Redaktionsmitglied Lucia Lenzen
 |  aktualisiert: 07.10.2011 16:42 Uhr

Es war sein Arzt, der das Wort zum ersten Mal in den Mund nahm: „Ich denke, Sie leiden unter einer Depression“, hatte er zu Martin Neuhauser (Name von der Redaktion geändert) gesagt. „Damals brach für mich eine Welt zusammen“, sagt der 45-Jährige heute. Es ist ein warmer Nachmittag und Martin Neuhauser hat in seinen Garten eingeladen. 20 Jahre nach der Diagnose ist er wieder bei sich, kann das Leben wieder genießen, sieht sich, seinen Garten und seine Mitmenschen. Deshalb möchte er öffentlich über das Thema sprechen, um allen, denen es ähnlich geht, Mut zu machen. Und er möchte aufklären: „Gerade Angehörigen sollte klar sein, dass ein depressiver Mensch nicht faul, sondern krank ist und deshalb Hilfe braucht.“

Das zu erkennen, ist für Außenstehende nicht immer leicht. „Man hat doch gar nichts gemerkt. Er hat doch immer gelächelt, immer funktioniert“, kommentierten die Menschen, als Neuhauser nicht mehr zur Arbeit kam, nicht mehr auf der Straße erschien. Fast banal fing es damals bei ihm an, mit Magenschmerzen und Halsschmerzen. Erst als selbst Röntgenuntersuchungen ergebnislos blieben, wurde die Diagnose Depression immer konkreter.

„Mit 25 Jahren hatte ich meinen ersten Tiefpunkt“, erzählt er. „Mein Projekt, ein Haus in Eigenregie zu bauen, hat mir damals noch den Rest gegeben. Ich hätte es am liebsten in die Luft gesprengt.“ Neben der Suche nach einem Schuldigen für seine Situation bricht Neuhausers Selbstwertgefühl in sich zusammen. Er bekommt Angst vor Dingen des Alltäglichen. „Wenn das Telefon klingelte, habe ich gedacht: Hoffentlich ruft jetzt keiner an und will etwas von mir“, beschreibt er.

Zur Unfähigkeit verbannt, gelingt Neuhauser an manchen Tagen selbst das Aufstehen nicht mehr. Er bekommt Selbstmordgedanken. Aber wie alles andere traut er sich auch das nicht mehr zu. Er wird krankgeschrieben, geht nach Lohr ins Bezirkskrankenhaus. Dort bleibt er ein halbes Jahr. Doch das Gefühl, nicht ich lebe, sondern die Gedanken leben mich, bleibt. „Ich hatte den Eindruck, ich bin unter Wasser und immer, wenn ich kurz an die Oberfläche komme, drückt mich jemand sofort wieder runter“, beschreibt er. Erst in der 18 Monate langen Reha im Anschluss an den Klinikaufenthalt kommt er langsam wieder zu sich.

„Nach sechs Monaten ging es bergauf. Ich lernte, mir neue Denkanstöße zu geben, meine Weltanschauung zu ändern“, erzählt er. Ein besonders wichtiges Thema für ihn: Die eigene Wertschätzung von der Leistung abzukoppeln. „Ich bin sehr streng erzogen worden. Alles musste immer perfekt sein, erst dann war man zufrieden. Ich wurde abhängig nach Anerkennung“, beschreibt Neuhauser. In der Reha lernte er, die Dinge wieder Stück für Stück zu genießen. So wie seinen Garten, den er sich, wieder zuhause, häppchenweise anlegte. „Früher hätte ich ständig gedacht: Hier musst du noch was anlegen, dort was abschneiden“, erzählt er. Mit dem neuen Selbstvertrauen schafft er es, seine Leistungen zu würdigen und sich nicht mehr von dem Gedanken leiten zu lassen, noch mehr Sachen noch besser und noch schneller zu tun. Und er lernte, sich weniger um das Gerede der Leute zu kümmern. „Wir geben uns selten zufrieden mit dem, was ist, sehen oft nur, was vor uns liegt“, beschreibt er.

Den Zwang zum Perfektionismus loswerden, Selbstvertrauen aufbauen, den Augenblick genießen – mit diesen Stellschrauben gelingt Martin Neuhauser der Weg zurück ins Leben. Über eine Umschulung und ein Praktikum während der Reha bekommt er eine neue Arbeitsstelle. „Nach dem ersten Lohn habe ich mich gefühlt wie ein Vogel im Wind“, erzählt er. Doch dem Aufwind folgt wieder die Gewohnheit. Zu diesem Zeitpunkt entdeckt er den Zettel des Selbsthilfebüros Main-Spessart. „Ich habe die Telefonnummer ein halbes Jahr mit mir herumgetragen“, beschreibt er. „Für mich hatte Selbsthilfe immer den komischen Beigeschmack von Leuten, die sich gegenseitig etwas vorjammern.“

Der Anruf änderte sein Bild. „Weil es in Karlstadt noch keine Selbsthilfegruppe Depression gab, schlug mir die Leiterin Simone Hoffmann vor, eine neue Gruppe zu gründen“, erzählt Neuhauser. Im Januar 2011 kam man erstmals zusammen. Zehn Männer und Frauen treffen sich seitdem regelmäßig und tauschen sich über Themen aus, die für den Umgang mit Depression wichtig sein können. „In der Gruppe bringt sich jeder ein und wir erarbeiten zusammen Ziele“, beschreibt Neuhauser. Es hat ihn viel Überwindung gekostet, bei einem Infoabend zur Gruppengründung in Karlstadt vor vielen Leuten zu sprechen. Aber er ist daran gewachsen.

Ob sich Martin Neuhauser für „gesund“ erklärt? „Früher habe ich gesagt: Ich bin wieder gesund, wenn ich nicht mehr an die Depression denke. Mittlerweile weiß ich: das ist falsch. Man muss die Krankheit annehmen. Es gibt keinen Schalter, den man findet, umlegt und alles ist vorbei. Aber es gibt einen Hebel, mit dem man etwas verändern kann.“ Wie stark oder schwach man den Hebel betätigt, hängt vom eigenen Mut ab. „Viele haben Angst davor, dass sich die Situation verschlimmert. Deshalb bewegen sie sich lieber gar nicht.“ Martin Neuhauser kennt dies nur zu gut, denn jahrelang war auch er in dieser Situation gefangen.

Dann aber hat er angefangen, sich zu bewegen. Und er tut es immer wieder. Trotzdem nimmt er sicherheitshalber täglich eine viertel Tablette Antidepressiva. Denn er ist sich immer noch nicht ganz sicher, dass das vor zwanzig Jahren unmöglich Geglaubte, nämlich ein selbstbestimmtes, zufriedenes Leben wiederzugelangen, eingetreten ist. Und er hat noch ein gutes Mittel gegen Selbstzweifel: Das Geheimnis der Hummel, dass er sich in schwachen Momenten vor Augen hält. Aufgrund ihres schweren Körpers und der relativ kleinen Flügelfläche dürfte die Hummel eigentlich gar nicht fliegen können. Ihre Lösung: Da sie die Gesetze der Aerodynamik nicht kennt, fliegt sie einfach.

Informationen und Auskünfte über die Selbsthilfegruppe Depression gibt es im Selbsthilfebüro Main-Spessart in der BRK-Begegnungsstätte Karlstadt, Tel. (09353) 98 17 86 oder per E-Mail unter Hoffmann@kvmain-spessart.brk.de.

 
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