Polizisten eines Sondereinsatzkommandos liegen auf der Lauer. Seit vier Tagen und Nächten observieren sie einen Container und wollen Drogenschmuggler fassen. Mitten in der Nacht rührt sich etwas auf dem Firmengelände im hessischen Friedberg. Ein weißer Sprinter versperrt den Ermittlern die Sicht auf die Männer, die eine Tonne Kokain nach Deutschland transportiert haben sollen. Auch Aimad Z. sehen die Polizisten nicht.
Er weiß, dass es nicht legal ist, was er da tut. Mit anderen Männern steht Aimad Z. vor dem Container, sie öffnen die Tür. "Da ist kein Zeug mehr drin", ruft einer. Ob sie schon realisieren, dass sie jetzt um eine Tonne Kokain ärmer sind? Die Männer ergreifen sie Flucht.
Blendgranate und Hubschrauber im Einsatz gegen die Schmuggler
Für das Sondereinsatzkommando bedeutet das: Zugriff! So habe man das vereinbart, schildert einer der beteiligten Ermittler am Landgericht in Aschaffenburg später. Die Einsatzkräfte zünden eine Blendgranate, ein Hubschrauber fliegt über das Gelände. Eine unbekannte Anzahl an mutmaßlichen Drogenschmugglern kann entkommen, der 23-jährige Aimad Z. und zwei weitere Männer werden in dieser Nacht festgenommen.
Die Drogen haben die Ermittlerinnen und Ermittler schon ein paar Tage zuvor, Mitte Juni 2022, in Aschaffenburg beschlagnahmt. Der Container hatte eine weite Reise hinter sich. Von der Dominikanischen Republik aus gelangte das Kokain über Hamburg nach Unterfranken. Nur noch mit der legalen Fracht beladen erreichte der Container schließlich das Firmengelände eines Medizinprodukte-Herstellers in Friedberg. Dort wartete die Polizei auf die "Abholer".
Verhandlung vor dem Landgericht in Aschaffenburg
Offenbar sind es drei Handlanger, die der Polizei ins Netz gehen. Wegen gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln hat die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg Anklage gegen sie erhoben. Aimad Z. muss sich seit Mitte Januar vor dem Landgericht in Aschaffenburg verantworten. Fragen des Richters beantwortete der Niederländer auf Deutsch. Früher habe er als Fliesenleger gearbeitet. Seit er 18 Jahre alt ist, lebe er "draußen", auf der Straße. Konsumierte Kokain und Marihuana. "Ich habe mich dafür geschämt."
Der junge Mann hat 22.000 Euro Schulden, als er der Einlassung seines Anwalts Ralf Peisl zufolge in einem niederländischen Einkaufszentrum ein dubioses Angebot seines Dealers erhält: Fahre nach Friedberg und du bekommst 100 Gramm Cannabis. Aimad Z. willigt ein – und wird offenbar Teil des Organisierten Verbrechens.
Seinem Mandanten sei klar gewesen, dass in Friedberg "irgendwas nicht Gesetzeskonformes" stattfinden könnte, sagt der Anwalt. Von Kokain will Aimad Z. nichts gewusst haben. Er sei davon ausgegangen, dass unversteuerte Elektrogeräte nach Deutschland transportiert werden sollten.
Wo der Weg des Kokains beginnt
Die Reise des Kokains hat, so weit sie die Ermittler zurückverfolgen können, vier Wochen vor dem Zugriff in Hessen begonnen. In der Dominikanischen Republik beladen Arbeiter auf dem Werksgelände einer Firma den besagten Container mit Transfusionsbeuteln, die nach Deutschland verschifft werden sollen. Eine Spedition soll den Container zum Hafen fahren. Offenbar kommt es dabei zu "Ungereimtheiten", wie deutsche Ermittler vor dem Aschaffenburger Landgericht aussagen.
Statt maximal zwei braucht der Lastwagen über acht Stunden zum Hafen. Mehrere Stunden steht der Container dann unbeaufsichtigt davor. Zollbeamte in der Dominikanischen Republik könnten bestochen worden sein, vermutet ein deutscher Polizist im Prozess. Die hessische Firma, sagt ein Beamter des Bayerischen Landeskriminalamtes, sei in den Drogenschmuggel nicht verstrickt.
Die große Menge deutet auf Organisierte Kriminalität hin
Gefälschte Plomben deuten darauf hin, dass der Container Anfang Mai 2022 geöffnet und wieder verschlossen wird. 1078,8 Kilogramm Kokain werden dabei wohl zwischen den Medizinprodukten versteckt. Bei einer solchen Menge bewege man sich "im Bereich der Organisierten Kriminalität, beziehungsweise der Mafia", verdeutlicht ein Ermittler die Dimension. Dem Zollfahndungsamt in München zufolge sind die 1078,8 Kilogramm die größte Menge Kokain, die jemals in Bayern auf einmal beschlagnahmt wurde.
Woher das aus der Kokapflanze gewonnene Pulver kommt? Bislang ungeklärt. "Erfahrungsgemäß stammen die Drogen aus Südamerika, namentlich Kolumbien, Bolivien und Peru, aber auch Ecuador und Brasilien", sagt Christian Schüttenkopf vom Zollfahndungsamt München auf Anfrage. Die Dominikanische Republik spiele im internationalen Drogenschmuggel "eine eher untergeordnete Rolle".
Im Jahr 2021 zog der Zoll in Deutschland mehr als 21 Tonnen Kokain aus dem Verkehr. Laut Jahresbericht der Behörde ging diese Rekordmenge vor allem auf große Einzelfunde des Zolls im Hamburger Hafen zurück. Darunter eine Sendung von 16 Tonnen Kokain, verteilt auf drei Container aus Paraguay - die größte jemals in Europa sichergestellte Menge Kokain.
Kolumbien gelte als wahrscheinliches Herkunftsland für die in Aschaffenburg beschlagnahmten Drogen, sagte ein Ermittler jetzt in dem Verfahren. Jemand müsse das weiße Pulver zu Platten gepresst und mit Plastikfolie umwickelt haben. In manchen der 47 Pakete war das Kokain mit Entwurmungsmittel gestreckt worden, wie Untersuchungen ergaben.
Von der Dominikanischen Republik aus gelangte der Container auf dem Seeweg nach Hamburg. Das wussten offenbar auch die Kriminellen. "Vermutlich haben sie die Frachtpapiere gelesen, die normalerweise im Container liegen", so ein Ermittler vor Gericht. In Deutschland wollten die drei Angeklagten der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg zufolge einen Plan erarbeiten, wie sie das Kokain aus dem Container bekommen. Aimad Z. wurde seinem Anwalt zufolge 20.000 Euro in Aussicht gestellt, wenn er "bei weiteren Diensten" helfe. Ein Kleinstbetrag, wenn man sich vor Augen führt, um welche Summen es bei dem Schmuggel ging.
109 Millionen Euro hätte die Tonne Kokain ein bringen können
Der Wert der beschlagnahmten Tonne Kokain soll bei rund 109 Millionen Euro liegen. Bei den Preisen auf dem Schwarzmarkt müsse man unterscheiden "ob die Mengen quasi im 'Großhandel' kilo-, zentner- beziehungsweise tonnenweise oder im 'Straßenhandel' per Kleinstverkaufspreis im Grammbereich veräußert und dabei eventuell auch noch weiter aufgestreckt werden", erläutert der Sprecher des Zollfahndungsamtes München, Christian Schüttenkopf. 109 Millionen Euro könnten ihm zufolge wohl mit der Tonne im Straßenverkauf erzielt werden, wenn die Ware nicht weiter gestreckt wird.
Kartenzahlungen an Tankstellen und Handydaten belegen offenbar, dass sich die Angeklagten wenige Tage vor dem Zugriff mehrmals in der Nähe des Hamburger Hafens aufgehalten haben. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet die Männer als "Bergungstrupp". Auf ihre Spur kamen die deutschen Ermittlungsbehörden durch einen Tipp aus der französischen Botschaft in Berlin. Wie ausländische Behörden an die Information gelangten - vor dem Landgericht Aschaffenburg wird dies nicht klar.
Aber ein Name fällt im Prozess immer wieder: Santos P.. Er gehörte offenbar nicht zu den Abholern, sondern zu den "Vermittlern". Diese zeichnen sich einem Drogenfahnder zufolge dadurch aus, dass sie über die notwendigen Kontakte und ein Budget verfügen. Santos P. soll zum Beispiel ein Hotel in Hamburg gebucht und eine hochmotorisierte schwarze Limousine gemietet haben, mit der er durch Deutschland fuhr. Mehrmals werden er und seine mutmaßlichen Komplizen geblitzt.
Separates Ankleidezimmer versus Wohnung in sozialem Brennpunkt
Santos P. lebt in den Niederlanden. Moderne Inneneinrichtung, teure Markenklamotten und "ein separates Ankleidezimmer für seine Frau", so beschreibt ein Fahnder das private Umfeld des mutmaßlichen Schmugglers. "Woher das Geld kommt, kann ich natürlich nicht sagen", fügt der Ermittler im Zeugenstand noch hinzu. Im Gegensatz dazu wohne einer der angeklagten "Abholer" in einer Gegend, "die man als sozialen Brennpunkt beschreiben könnte". Für die Ermittler ist das ein klarer Hinweis auf die unterschiedlichen Hierarchieebenen.
Während das Sondereinsatzkommando in der hessischen Kleinstadt drei der Abholer festnehmen, entkommt Santos P. offenbar. Erste Laboruntersuchungen deuten darauf hin, dass er DNA-Spuren an der Containertür hinterlassen hat. Eine genaue Analyse steht noch aus. Auch ein Schlüssel für eine auf ihn gemeldete Wohnung in Den Haag fanden die Ermittler in einem der Fluchtautos.
In vielen Punkten hüllen sich die Observationskräfte in Schweigen. Zur Taktik der Polizei müssen sie vor Gericht nicht aussagen. Zum Teil sind ihre Identitäten so geheim, dass sie selbst im Zeugenstand ihren Namen nicht nennen müssen. Sie haben Nummern, ihre Gesichter sind mit Corona-Masken teilweise verhüllt.
Wie viele Personen den Einsatzkräften in Friedberg entkommen sind, ist unklar. Darüber zeigte sich auch der Vorsitzende Richter Karsten Krebs verwundert. "Gehen Sie von mehr als fünf Personen aus?", fragt er einen Fahnder. "Wahrscheinlich ja", antwortet einer der Beamten des Zollfahndungsamts München.
Flucht in der Nacht: Den Sondereinsatzkräften zu Fuß entkommen
Auch Aimad Z. rennt davon. Als "ziel- und planlos" beschreibt Verteidiger Peisl den Fluchtversuch. Per Anhalter habe sein Mandant versucht, mitten in der Nacht vom Tatort zu entkommen. Niemand nimmt ihn mit. Eineinhalb Stunden nach dem Zugriff wird Z. auf einem Feldweg aufgegriffen, heißt es in der Anklageschrift.
Den Prozess verfolgt der Niederländer ohne erkennbare Emotion. Seinen Daumen bohrt er immer wieder in seine rechte Wange. Gelegentlich sucht er den Blickkontakt mit vier jungen Männern im Zuschauerraum. Am Ende des zweiten Verhandlungstages streckt er ihnen den gehobenen Daumen entgegen, als wolle er signalisieren: Mir geht es gut!
Urteil des Landgerichts: Freiheitsstrafe für Aimad Z. von fünf Jahren und zwei Monaten
Wie so oft in diesen Fällen hätten "lediglich Personen der unteren Hierarchieebene" gefasst werden können, die die "Drecksarbeit" erledigen, sagt der Vorsitzende Richter. Nach drei Verhandlungstagen verurteilt das Landgericht Aschaffenburg Aimad Z. an diesem Donnerstag zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten. Das Gericht sieht die Beihilfe des Angeklagten beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als erwiesen an. Die Strafe kann der 23-Jährige vollständig in einer Entzugsanstalt verbüßen. Dort soll seine Drogenabhängigkeit therapiert werden. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Ein 26-jähriger Mitangeklagter, der als weiterer "Abholer" gilt, ist im Unterschied zu Aimad Z. einschlägig vorbestraft. Er wird zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten in einer forensischen Entzugsklinik verurteilt. Zwei Jahre und drei Monate muss er zuvor in regulärer Haft absitzen. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.
Der Prozess gegen den mutmaßlichen weiteren Komplizen ist auf März vertagt. Der 45-Jährige war zu Beginn der Hauptverhandlung in einem Würzburger Krankenhaus behandelt worden.
Ermittlungen gegen "Vermittler" Santos P. laufen
Und die Hierarchieebene darüber? Ausländische Ermittler haben Santos P. im September des vergangenen Jahres gefasst. Er soll Ermittlern zufolge in anderen Fällen mit Drogen und Waffen gehandelt haben und befindet sich in einem niederländischen Gefängnis. Wegen versuchten Mordes und Körperverletzung wird gegen ihn ermittelt.