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Marktheidenfeld
Das pure Gefühl: Das bewegte Leben des Gitarristen Mike Viertel
Ein Leben für die Musik. Der gebürtige Marktheidenfelder stand mehrfach vor dem Durchbruch, erlebte schwere Unfälle und starb im Alter von 64 Jahren.
Mike Viertel in seinem Element: Der Gitarrist auf der Bühne.
Foto: Gerald Langer | Mike Viertel in seinem Element: Der Gitarrist auf der Bühne.
Bearbeitet von Raymond Roth
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:32 Uhr

"Gehst du heute Abend ins X?" "Nö, keine Lust." "Hey! Mike Viertel spielt." "Dann geh ich hin!" So oder so ähnlich haben sich wohl viele Gespräche entwickelt, wenn in den vergangenen Jahren irgendwo in Unterfranken ein Auftritt des Ausnahmemusikers  Mike Viertel angekündigt wurde. Vor einigen Wochen ist der gebürtige Marktheidenfelder – mit 64 Jahren viel zu früh – gestorben. Ein Rückblick auf das Leben der "fränkischen Blueslegende".

Michael (Mike) Viertel, geboren am 30. Januar 1956, wuchs in dem Teil Marktheidenfelds auf, der dort "Klein-Moskau" genannt wurde. Er  begann schon im frühen Teenager-Alter autodidaktisch mit dem Gitarre-Spiel, ohne jemals  Noten lesen zu lernen. Unter seinen Nachbarn und Freunden waren Thomas Roos, der sich später  intensiv um den musikalischen Nachlass Viertels verdient machen sollte, und Edwin "Eddi" Zacherl. Aus der Plattensammlung dieser und anderer Freunde hörte er sich seine musikalischen Vorlieben heraus: Jeff Beck, die Allman Brothers, Jimi Hendrix, Blues.

Die ersten Bands in den 70ern

Gitarrist Mike Viertel
Foto: Privatarchiv Roth | Gitarrist Mike Viertel

Bald spielte Viertel mit seinem Kumpel Eddi in ersten Bands: "E 605", "Pluto" und "Big Truck" erspielten sich von 1972 bis 1974 eine wachsende, lokale Fan-Gemeinde. Schon damals begann Mike, seine ganz eigene Art des Gitarrespiels  zu entwickeln. 1975 kamen zu Eddi (Bass) und Mike  drei Musiker aus dem Raum Münnerstadt mit eigenem musikalischem Stammbaum hinzu,  darunter Bernie Kirchhoff (drums): "Murphy" war entstanden. Nach  Mikes Wehrdienstzeit entwickelte sich  1977 "Tumbleweed" (Eddi, Mike, Bernie), mit Schwerpunkt akustischer Musik, und mit vielen Gigs im und um das Main-Viereck sowie dem Sieg bei einem Wettbewerb in der Würzburger Zellerau – Preis war eine Reise in die DDR. 1978 benannte sich die Gruppe um in "Kid Murphy Band".

Mike erlernte den Beruf des Drehers, heiratete sehr jung, wurde Vater einer Tochter, und lebte und arbeitete in Volkach. In Bergtheim bei Würzburg gab es schon seit einigen Jahren die Wohngemeinschaft, in der Mike dann regelmäßig auftauchte. Eine Hippie-Kommune? Vielleicht, aber viele gingen einer festen Arbeit nach. Und künstlerisch war die Musiker-WG hochinteressant, ihre Mitglieder machten eigenwillig und konsequent "ihr Ding". Es war ihnen herzlich egal, dass ihre Musik zeitgleich gegen angesagte Disco-Musik, gegen Bombast-Stadium-Rock, Punk und New Wave antrat. Die "fränkischen Grateful Dead" – Eddi hatte mittlerweile ein Jahr in den USA gelebt – formierten sich, anfangs mit Jürgen Horn (Keyboards), dann mit den US-Amerikanern George Legeros, Tracy Needham und Jesse Ballard (alle: Gesang und Gitarre), von denen Mike musikalisch viel lernte. Eine selbstverlegte  Langspielplatte ("Contact") erschien, mit der die Band aber letztlich nicht zufrieden war.

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Plattenvertrag auf dem Tisch, das Schicksal kommt dazwischen

Die begehrte Live-Band erspielte sich in fast allen amerikanischen Clubs in Süddeutschland,  Rheinland-Pfalz und bis nach Luxemburg einen fast legendären Ruf, die Auftrittslisten waren  ellenlang und gut gefüllt. Mike Viertel stach heraus, ohne sich nach vorne spielen zu wollen. Er prägte den Sound durch sein außergewöhnlich gefühlvolles Gitarrespiel "aus dem Bauch heraus" und mit Soli, die niemals so klangen, als hätte er sie aus zurechtgelegten Baukasten-Teilen zusammengestöpselt. "Ein Spiel, an dem man ihn aus zahllosen anderen Gitarristen heraushörte", sagt Jochen Volpert, heute Würzburgs herausragender Gitarrist, früher Bewunderer Viertels und später sein Mit-Musiker in der Omni-Blues-Band.

Thomas Roos hat den musikalischen Nachlass der 'Kid Murphy Band' in einer schön ausgestatteten 5-LP-Box herausgebracht.
Foto: Raymond Roth | Thomas Roos hat den musikalischen Nachlass der "Kid Murphy Band" in einer schön ausgestatteten 5-LP-Box herausgebracht.

Die Band lieferte dem begeisterten Publikum ihre ganz eigene Ausprägung des Besten, was Westcoast- und Southern-Rock zu bieten hatten sowie Eigenkompositionen, viele von Jesse Ballard, der  heute noch mit eigener Band tourt. 1981 verließen die Amerikaner die Band, ihnen folgten als Sänger Chris Sutcliff (lebt heute in Australien) und als Gitarrist Jojo  Duczynski, später Gabi Kleinhenz (vocals) und Andy Leins (keyb), der viele Geschichte der Band zu erzählen weiß.  1983 gewann die "Kid Murphy Band" den Band-Wettbewerb des SWR 3 in Stuttgart; der Plattenvertrag bei der dort ansässigen Plattenfirma Intercord lag unterschriftsreif vor, einer vielversprechenden Karriere schien nichts im Wege zu stehen.

Das Schicksal wollte es aber anders. Im Dezember 1983 gab es auf der Heimfahrt von einem Gig in Neu-Ulm einen schweren Auto-Unfall, den Eddi Zacherl nicht überlebte; Mike und Bernie trugen schwere Verletzungen davon.  Es war das tragische Ende einer ganz hervorragenden Band.

Neuer Job mit Weggefährten

Nach dem Bruch eines Halswirbels benötigte Mike Viertel eine lange Genesungszeit. Wie viele Weggefährten sagen, litt er sehr unter dem  Verlust seines Freundes Eddi, der sich stets auch um die über die Musik hinausgehenden Belange der Band gekümmert hatte. Eddi, Thomas Roos und Band-Techniker Peter Raupp hatten da schon  zwei Jahre lang in Marktheidenfeld eine Kunstglaserei betrieben, die nach dem verhängnisvollen Unfall bald nach Würzburg umzog. Mike lernte um und arbeitete dann in der Familie der Glaser und Musiker mit. "Präzision und Akribie hatte Mike drauf. Qualität zu liefern wie in der Musik fiel ihm nie schwer", sagt Thomas Roos heute. 25 Jahre lang schuf diese Gruppe (Thomas Roos, Renate Zacherl, Mike Viertel, Peter Raupp, Klaus "Mausi" Ludewig, später auch Erhard Galbas und Reinhard Müller von "Downtown") füreinander und gerade für Mike die nötigen Freiräume für die Musik, für Proben und Auftritte. 1992 veröffentlichte Thomas Roos eine liebevoll ausgestattete 5-LP-Box der „Kid Murphy Band“ namens "Music Jail".

Mike Viertel beim Solo.
Foto: Bernd Mierzwa | Mike Viertel beim Solo.

Viertel spielte gut zwei Jahre lang mit zwei Musikern aus Lohr in der Band "Quickslip" und musizierte in den späten 80ern/frühen 90ern in einer Reihe verschiedener Bands und Projekte. Er hatte Erfolge mit "Too Bad For The Baby", in der er sogar bei Auftritten in Sevilla zeigte, dass er auch als Reggae-Musiker zu brillieren verstand. Einige Studio-Aufnahmen verraten die Klasse der Band, sind aber noch unveröffentlicht.

Musikalische Vielfalt und Umzug nach Schweinfurt

Mit der Schweinfurter Band "Downtown" spielte Mike Viertel Tanzmusik und verdiente gutes Geld. Die Salsa-Band "Sol  y sombra" von Margarita González bereicherte Mike Viertel durch sein Spiel und den Einfluss von Carlos Santana. Eine Weile lebte er in Zellingen, wo er im häuslichen Keller tolle Jam-Sessions mit sehr guten Musikern der Region veranstaltete. "Mach doch was aus diesen Kontakten", riet ihm Thomas Roos mehrfach. "Du könntest auf noch größeren Bühnen auftreten." Aber Mike gelang es nie, die nötige Eigeninitiative zu entwickeln. 

1999 zog er mit  der "Focus modernes Glas"-Family  nach Waldbüttelbrunn. In der Finanzkrise 2008 aber konnte das Unternehmen nur durch personelle Ausdünnung überleben. Mike stieg aus und zog nach Schweinfurt.  Über das erfolgreiche Projekt "Van Olsen" (1995 bis 1998) wurde er 1999 Gründungsmitglied der "Omni-Blues Band" (mit Linda Schmelzer, Jochen Volpert, Gunnar Olsen, Chui Lang und später Michael Hauck). Er gewann die erste "Guitar Challenge" im Würzburger Omnibus und spielte auch in der Folgezeit meistens mit, beispielsweise als einer der Solo-Gitarristen von "The Best of Eric Clapton" und als wesentlicher Teil der von Linda Schmelzer initiierten Jimi-Hendrix-Cover-Band.

Mit der Omni-Blues-Band, die häufig mit prominenten musikalischen Gästen auftrat, riss Mike Viertel nahezu jedes Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Dabei legte er stets  großen Wert auf seinen Sound, den er mit einer weißen Fender Stratocaster und einem "Mesa Boogie"-Gitarrenverstärker erreichte.

Die Omni-Blues-Band mit (von links) Michael Hauck, Mike Viertel, Gunnar Olsen, Linda Schmelzer und 'Chui' Lang beim Auftritt im Jahr 2012 in der Kellerbühne Lengfurt.
Foto: Raymond Roth | Die Omni-Blues-Band mit (von links) Michael Hauck, Mike Viertel, Gunnar Olsen, Linda Schmelzer und "Chui" Lang beim Auftritt im Jahr 2012 in der Kellerbühne Lengfurt.

"Murphy's Law" greift erneut

Er wohnte mittlerweile bei seiner späteren zweiten Ehefrau Margit in Schweinfurt, wo er als Session-Musiker hoch geschätzt wurde. An seine Auftritte dort, auch in der Stadthalle Schweinfurt, erinnern sich noch viele Musikfans. Es mag zum früheren Gitarristen der Kid Murphy Band passen, dass „Murphy’s Law“ häufig zutraf: „Wenn irgendetwas schief gehen kann, dann wird es auch schiefgehen.“ Nach einem Arbeitsunfall – ein Gabelstapler fuhr ihm während der Arbeit als Lagerist über den Fuß – verpasste er wichtige persönliche Termine, bei einer Erkrankung verlor er durch medikamentöse Behandlung das Gefühl in seinen Fingerspitzen. Und als er nach längerer Krankheit verstarb, blieb ihm in Corona-Zeiten ein würdiger Abschied versagt.

Gunnar Olsen und Jochen Volpert versichern, dass es einen musikalischen Tribut für Viertel geben wird – wenn das wieder möglich ist. Sicher ist: Mike Viertel bleibt ein Unvollendeter, für viele in Franken aber dennoch ein Gitarrenheld, für manche gar eine Legende. 

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Erinnerungen von Weggefährten

Jochen Volpert (Gitarrist aus Würzburg): "Mike Viertel war einer der wenigen Gitarristen, der wirklich lange solieren konnte und du fandest es einfach wunderbar. Wenn er ein Solo abfeuerte und du danach dran warst ...... puuuuh ..... dann konnte es sein, dass du verloren hattest. Nicht weil er technisch so brillant gewesen wäre – er spielte einfach wie er selbst und sein Feeling war unglaublich. Das war einfach herrlich."
 Tim Jäger (Rock Class): "Nach Auftritten kam er oft auf einen zu und sagte: 'Was Ihr gespielt habt, war geil.' So was machen ja auch wenige. Er war ein außergewöhnlich begabter Gitarrist, mit viel Gefühl und einem Spirit, den man sofort herausgehört hat."
Jürgen Horn (Kid Murphy Band 1979-81): "Mike konnte keine Noten lesen und machte sich auch keine Gedanken über irgendwelche Akkordfolgen beim Spiel. Wir haben uns bei den Auftritten fast blind verstanden, weil ich mit nachvollziehen konnte, was er vorhatte."
Bernie Kirchhoff (Kommunen-Mitglied, "Kid Murphy-Band" und "Van Olsen"): "Mike musste man oft bremsen bei seinen Soli, die sich weiträumig bewegten, sehr variabel waren und immer verschieden. Nach dem schweren Unfall, bei dem ich auch Verletzungen erlitt , war es mit der WG fast sofort vorbei . Aus der Zeit bei Van Olsen gibt es schöne Aufnahmen. Ich spiele mit dem Gedanken, einige  ins Web hochzuladen als Gedenken an den Mike."
Margarita González (Too bad for the baby, Sol  y Sombra):  "Mike machte nie viele Worte, aber am Tonfall, wenn er nur ,hm' sagte, wusste man sofort, was er meint. Wir spielten Salsa, Latin Pop mit Eigenkompositionen, vieles von Santana. Er war auch bei unseren Gigs in Manchester und London dabei, in den 1990ern. Auf unserer einzigen CD ist er zu hören. Wir waren da wie eine Familie, in die er als sehr  liebenswerter Mensch gut hineinpasste. Er war ein Ausnahmegitarrist, aber keinesfalls ein  Ego-Typ, der in den Vordergrund rücken wollte."
Gunnar Olsen (Omni-Blues-Band): "1998 fragte ich Linda Schmelzer, ob man nicht eine Band gründen könnte. Sie fragte: ,Und wer spielt Gitarre?' Ich: Mike Viertel. Und sie: ,Eben. Nur mit ihm würde ich die Band machen.' Mikes Spiel war so gefühlvoll. Es gibt wenige Menschen, die richtig merken, was Blues ist. Mike konnte die Menschen berühren. Und er war dabei stets band-dienlich. Er hat sich bei seinen Soli nie wiederholt; wir haben noch Aufnahmen von Stücken mit ihm. Er war die Seele der Band. Wir haben uns mit ihm zusammen an immer schwierigere Songs herangetraut und sie gespielt und uns damit als Band erheblich weiter entwickelt. Als er schwer erkrankte und nicht mehr spielen konnte, haben wir auch die Band zu Grabe getragen."
Thomas Roos (Kid Murphy Band): "Mike hatte den Blues ... lost my family, lost my friends, lost my job, lost my health, got no money, got it … Obwohl er dann auch wieder Freunde und Familie hatte. Aber nur so, denke ich, kann man den Blues spielen."
Quelle: Raymond Roth
 
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