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Lohr
1978: Wie es in Lohr zu einer gewaltigen Gasexplosion kam
Eine Frau starb, 60 Menschen wurden verletzt, Hunderte halfen: Der 26. Juni 1978 hat einen festen Platz hat im kollektiven Gedächtnis der Stadt Lohr.
Nach der Gasexplosion am 26. Juni 1978 am Marktplatz in Lohr: Helfer tragen einen Verwundeten zum 250 Meter entfernten Krankenhaus. 
Foto: Karl Anderlohr | Nach der Gasexplosion am 26. Juni 1978 am Marktplatz in Lohr: Helfer tragen einen Verwundeten zum 250 Meter entfernten Krankenhaus. 
Roland Pleier
 |  aktualisiert: 08.02.2024 12:09 Uhr

Montag, 26. Juni 1978. Es ist ein etwas frischer Sommertag, der Himmel bedeckt. Die Lohrer Innenstadt ist eine Baustelle: Die Hauptstraße wird zur Fußgängerzone umgebaut. Im Erdgeschoss des Rathauses tagt um 17 Uhr der Finanzausschuss des Stadtrats. Siegfried Selinger, damals seit zwei Monaten Stadtrat, später Bürgermeister, hat sich verspätet. Eine Bekannte hat ihn aufgehalten. Kaum hat er die Tür im Rathausturm hinter sich geschlossen, knallt es: Eine gewaltige Druckwelle sprengt die Tür aus den Angeln. Selinger fällt mit ihr unter die Wendeltreppe. Furchtbar dunkel, fast schwarz ist es, als er wieder zu Sinnen kommt, dann wird es braun, schließlich immer heller.

Die Rathausuhr bleibt um 17.07 Uhr stehen. Eine Gasexlosion vor dem Ratsgrill unmittelbar hinter dem Rathausturm hat die Stadt erschüttert. Drei Fachwerkhäuser stürzen ein. Hunderte von Fenstern bersten, ihre Scherben fliegen wie Geschosse durch Räume. Die Dächer in unmittelbarer Umgebung werden abgedeckt, Türen eingedrückt. Zentimeterdick legt sich Staub auf die Trümmer. Teile der Altstadt sind ohne Strom, ohne Telefonverbindung.

Das Unglück im Herzen der Stadt führt zum größten Einsatz der Hilfskräfte in der Nachkriegszeit in Lohr (Lkr. Main-Spessart). Es ist ein Tag, der einen festen Platz bekommt im kollektiven Gedächtnis der Stadt.

Viele Verletzte laufen zum nahen Krankenhaus

Der Turm des Alten Rathauses hielt stand, zeigte nur Risse und fing die Druckwelle weitgehend ab: Von den Stadträten, die im Erdgeschoss tagten, wurde keiner verletzt. 
Foto: Otto Madre | Der Turm des Alten Rathauses hielt stand, zeigte nur Risse und fing die Druckwelle weitgehend ab: Von den Stadträten, die im Erdgeschoss tagten, wurde keiner verletzt. 

Siegfried Selinger, damals 35 Jahre alt, bleibt unbeschadet. In den Fenstern der Sparkasse am Marktplatz registriert er weinende Frauen. Er steigt auf den Schuttberg. Erst als Metzger Anton Back hinzukommt, entdecken sie Margarete Schecher, die über dem Ratsgrill wohnt. Sie ist erst auszumachen, nachdem sie sich etwas bewegt hat und die dicke Staubschicht von ihr abgefallen ist. Die beiden tragen die 72-Jährige auf den Marktplatz, andere bringen sie ins Krankenhaus. Fünf Stunden später wird sie dort sterben.

Vom Rathaus zum Krankenhaus sind es nur 250 Meter. Viele der Verletzten begeben sich, teilweise blutüberströmt, selbst dorthin. 56 Menschen werden leicht verletzt, meist haben sie Schnittwunden, vier weitere sind schwer verletzt.

Es hat geknallt, dann weiß ich nichts mehr.
Siegfried Zeitz, Explosionsopfer

Siegfried Zeitz ist gerade in sein Büro an der Ecke des Sparkassengebäudes gegangen, als es passierte. "Es hat geknallt, dann weiß ich nichts mehr", wird er 40 Jahre später erzählen. "Dann haben sie mich aus den Scherben rausgeholt. Ich weiß nur noch, dass einer der beiden Kollegen, die mich zum Krankenhaus geschleift haben, zum anderen gesagt hat: ,Jetzt mach amal schnell, der stirbt uns sonst unter der Hand weg.'"

Seinen 48. Geburtstag feiert er eine Woche später im Krankenhaus. "Ich muss ausgesehen haben wie eine ägyptische Mumie", berichtet er. Er hat zahlreiche Schnittverletzungen, hauptsächlich im Gesicht, eine Hirnprellung, die Zähne sind kaputt, der Kiefer gebrochen. Wochenlang ernährt er sich nur über ein Röhrchen, "so haben sie mich halt über die Runden gebracht". Es dauerte Monate.

Helfer räumen die ersten Trümmer weg auf der Suche nach möglichen Verschütteten.
Foto: Karl Anderlohr | Helfer räumen die ersten Trümmer weg auf der Suche nach möglichen Verschütteten.

Sein Kollege Adolf Reichert hat großes Glück. Just als es knallt, bückt er sich nach seiner Reiseschreibmaschine, die nicht wie gewohnt auf dem Schreibtisch stand, sondern auf dem Boden. Eine Sekunde später und er wäre ebenfalls von Glassplittern durchsiebt worden. 

Um 17.55 Uhr löst Landrat Erwin Ammann Katastrophenalarm aus. Die Lohrer Ärzte und Internisten sind von sich aus ins Krankenhaus geeilt. 270 Hilfskräfte beseitigen die Trümmer auf der Suche nach möglichen Opfern: 125 Feuerwehrleute, 60 THWler, 90 Helfer vom Roten Kreuz. Sechs Lastwagen bringen den Schutt zum ehemaligen Schuttplatz nach Sendelbach. Arbeitshandschuhe werden angefordert. Und Blutkonserven.

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Polizisten riegeln das Zentrum ab, um Plünderungen zu verhindern, um Mitternacht werden sie abgelöst von 35 Mann der Bereitschaftspolizei aus Würzburg. Die Bundeswehr in Hammelburg ist einsatzbereit, wird aber nicht aktiviert. Allein die Schwestern der Krankenhausküche kochen 280 Liter Tee für Verwundete und Helfer. Rotes Kreuz und Malteser installieren Feldküchen am Schlossplatz. Bäcker und Metzger versorgen Helfer mit Weck und Wurst. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang gibt es wieder Strom.

Umliegende Häuser werden evakuiert: 15 Familien, rund 100 Personen, kommen alle privat unter. Keiner nimmt das Notlager in der Grundschule in Anspruch. Kurz nach Mitternacht werden die Bergungsarbeiten eingestellt.

Bagger hat Gasleitung abgerissen

Die Explosion verursacht hat ein Bagger, der bei Grabungsarbeiten in der Rathausgasse den Hausanschluss einer Gasleitung angehoben und von der Gasuhr im Keller abgerissen hat. Knapp eine halbe Stunde lang ist Gas in den Keller geströmt. Dann hat wohl ein elektrischer Funke das Luft-Gasgemisch explodieren lassen.

Tags darauf laufen Hilfsaktionen für die Opfer an. Die Lohrer Tageszeitungen widmen sich der Ursachenforschung und der Schuldfrage. Glaser und Dachdecker haben jetzt Hochkonjunktur. Das Modehaus Schneebacher, zur Hälfte eingefallen, sorgt mit dem Abverkauf leicht beschädigter und verschmutzter Kleidung in der Alten Turnhalle für einen Massenansturm. 

Nach der Gasexplosion im Juli 1978: Abverkauf des Modehauses Schneebacher in der Alten Turnhalle - der Andrang war riesig.
Foto: Karl Anderlohr | Nach der Gasexplosion im Juli 1978: Abverkauf des Modehauses Schneebacher in der Alten Turnhalle - der Andrang war riesig.

Nach gut zwei Wochen teilt die Versicherungskammer Aschaffenburg mit, dass 116 Gebäudeschäden gemeldet wurden. 37 davon liegen höher als 3500 Mark. Dazu kämen noch Schäden an Inventar und an Fahrzeugen. Laut Regierung von Unterfranken summieren sich die Schäden auf drei Millionen Mark – je zur Hälfte bei Privatpersonen und öffentlichen Einrichtungen.

Ein Jahr später macht ein Schöffengericht nach fünf Verhandlungstagen vier an den Bauarbeiten beteiligte Männer für das Unglück verantwortlich. In der Berufungsverhandlung im Februar 1980 erhöht das Landgericht Würzburg das Strafmaß gegen drei Angeklagte auf jeweils ein Jahr, gegen den vierten auf sechs Monate, jeweils auf Bewährung. Dazu verhängt es Geldbußen zwischen 3000 und 6000 Mark.

1978: Wie es in Lohr zu einer gewaltigen Gasexplosion kam

Schuldig gesprochen werden sie wegen fahrlässiger Tötung in einem Fall, fahrlässiger Körperverletzung in 61 Fällen und fahrlässigen Herbeiführens einer Explosion, bei der Schäden von rund 3,2 Millionen Mark entstanden. Das Gericht geht davon aus, dass "vorwerfbares menschliches Versagen sich aneinandergereiht und zu dem Unfall geführt" hat: unvollständige Pläne über die verlegten Gasleitungen, Mängel bei der Koordination und Sorglosigkeit bei der praktischen Arbeit.

Ratsgrill-Wirt Otto Bernard hörte den Knall der Explosion, als er gerade mit dem Auto nach Lohr zurückkehrte. Freigesprochen von Schuld, zermürbten ihn die jahrelangen Verhandlungen mit Banken und Versicherungen. Nur ein Bruchteil der Kosten für den Wiederaufbau wurde ihm erstattet, Rechtsanwälte kosteten ihn eine sechsstellige Summe. Bis heute bestreitet der 90-jährige seinen Lebensunterhalt als Bratwurstverkäufer.

75 Jahre Main-Post

Am 24. November 1945 erschien im zerstörten Würzburg die erste Ausgabe der Main-Post. Zum Medienhaus gehören inzwischen auch das Schweinfurter Tagblatt, Volkszeitung und Volksblatt, der Bote vom Haßgau, das Haßfurter Tagblatt sowie das Obermain-Tagblatt. Der 75. Geburtstag der Main-Post ist ein Grund für die Redaktion, zurückzuschauen. Wir veröffentlichen deshalb das ganze Jahr Geschichten aus dieser Vergangenheit.
Quelle: mp
 
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