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LOHR
Ein Tag wie noch keiner in Lohr
Montag, der 26. Juni 1978 Dieser Tag hat einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Stadt: Vor 40 Jahren gab es eine Gasexplosion, die Hunderte von Menschen betraf.
Gasexplosion in Lohr am 26. Juni 1978: Zwei Häuser sind zu einem Trümmerhaufen zusammengefallen, ein drittes zur Hälfte.
Foto: Karl Anderlohr | Gasexplosion in Lohr am 26. Juni 1978: Zwei Häuser sind zu einem Trümmerhaufen zusammengefallen, ein drittes zur Hälfte.
Roland Pleier
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:33 Uhr

Montag, 26. Juni 1978. Bundeskanzler Helmut Schmidt trifft zum Auftakt seiner Afrikareise in Lagos ein. In Ost-Berlin empfängt DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker das libysche Staatsoberhaupt Umar Muammar al Gaddafi. In Jemen wird Staatspräsident Salem Rubajji Ali im Laufe eines Putsches hingerichtet. Es ist die Zeit des Kalten Krieges und der terroristischen RAF. Es ist ein etwas frischer Sommertag in Lohr, der Himmel bedeckt. Die Innenstadt ist eine Baustelle: Die Hauptstraße wird zur Fußgängerzone umgebaut. Um 17 Uhr beginnt im Erdgeschoss des Rathauses eine Sitzung des Finanzausschusses. Es ist ein Tag, der einen festen Platz bekommt im kollektiven Gedächtnis Lohrs. Denn im Herzen der Stadt passiert ein Unglück, das zum größten Einsatz der Hilfskräfte in der Nachkriegszeit in Lohr führt.

Fotoserie

Der Zeiger steht auf 17.07 Uhr

Die Uhr am Alten Rathaus bleibt um 17.07 Uhr stehen: Die Druckwelle einer gewaltigen Gasexplosion im Ratsgrill unmittelbar daneben erschüttert das Zentrum. Scherben fliegen wie Geschosse durch Räume. Drei Fachwerkhäuser stürzen zu einem Trümmerhaufen zusammen. Hunderte von Fenstern zerbersten – von der Graben- bis zur Haaggasse, von der Grafen-von-Rieneck- bis zur Turmstraße.

Die Dächer in unmittelbarer Umgebung werden abgedeckt, Türen eingedrückt. Im Treppenturm des Rathauses klaffen Risse. Eine zentimeterdicke Staubschicht bedeckt die Trümmer rings um den Ort des Geschehens. Die Sparkasse gleicht einem Rohbau. Teile der Altstadt sind ohne Strom, ohne Telefonverbindung.

Bewohnerin kommt ums Leben

Margareta Schecher, 72 Jahre alt und ledig, wird unter den Trümmern auf Höhe des Hauseingangs geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Fünf Stunden später stirbt sie dort. Vier Menschen werden schwer verletzt, 56 weitere leicht, meist durch Schnittwunden.

Vom Rathaus zum Krankenhaus sind es nur 250 Meter. Viele der Verletzten begeben sich, teilweise blutüberströmt, selbst dorthin. Im Keller des Modehauses Schneebacher werden eine Verkäuferin und ein Kind verschüttet.

Polizei: Ohne Fenster, ohne Strom, ohne Telefon

Die Landespolizeiinspektion in der Rathausgasse 1, dem Gebäude neben der Sparkasse, ist selbst betroffen: die Fenster zerborsten, die Räume verwüstet, kein Strom, keine Telefonverbindung. Ab 17.09 Uhr alarmiert ein Beamter die Feuerwehren Lohr, Wombach, Rodenbach und Sackenbach von einem öffentlichen Telefon aus, danach die Rettungsleitstelle und das Bayerische Rote Kreuz.

Nach fünf Minuten treffen die ersten Rettungskräfte ein, die Lohrer Feuerwehr, die Betriebsfeuerwehr Rexroth und das Technische Hilfswerk drei Minuten später. Kurz vor halb Sechs, heulen die Sirenen in vier Stadtteilen und auch in Frammersbach.

Von der Jubelfeier zur Katastrophe

Landrat Erwin Ammann ist gerade in Himmelstadt, gratuliert einem Jubilar zum 100. Geburtstag. Er wird über einen Umweg telefonisch erreicht. Um 17.55 Uhr löst er Katastrophenalarm aus, eine halbe Stunde später ist er vor Ort und leitet den Einsatz.

Wegen des teilweise ausgefallenen Telefonnetzes erreicht das Krankenhaus auf diesem Weg keinen Arzt. Doch die Lohrer Ärzte und Internisten eilen von sich aus ins Krankenhaus, erzählt Uwe Johnson, der als an diesem Tag leitender Notarzt den medizinischen Einsatz zu koordinieren hat. Im Krankenhaus melden sich laut Zeitungsmeldung 56 Verletzte. Ein Funkspruch zur Rettungsleitstelle um 18 Uhr: „Die Kapazität des Krankenhauses Lohr ist erschöpft. Wenn noch weitere Verletzte kommen, dann Krankenhaus Marktheidenfeld anfahren.“ Leichter Verletzte mit Fahrtmöglichkeiten werden laut Johnson in umliegende Krankenhäuser weitergeschickt. Ein Schwerverletzter wird gegen 19.30 Uhr in die Universitätsklinik nach Würzburg gebracht. Kurz nach 21 Uhr fordert das Krankenhaus ein Fahrzeug für Blutkonserven an.

Hilfskräfte, Lastwagen und Handschuhe

270 Hilfskräfte der Rettungsorganisationen beseitigen die Trümmer auf der Suche nach möglichen Opfern. Die Feuerwehren sind mit 125 Mann vor Ort, das THW mit 60 Helfern, das Rote Kreuz mit 90 am Schlossplatz. Um 17.40 Uhr fordert die Polizei drei Lastwagen der Firmen Goßmann und Brönner aus Lohr und Wombach an, eineinhalb Stunden später weitere drei von den Firmen Strietzel, Schmitt und Siegler. Die sechs Lastwagen laden den Schutt am ehemaligen Schuttplatz in Sendelbach ab. Aus Karlstadt werden um 19.30 Uhr 100 Paar Arbeitshandschuhe angefordert. 50 werden um 20 Uhr geliefert, 40 weitere aus Marktheidenfeld erbeten. Die Kommunikation der Polizei läuft über Funk. Das Telefonnetz ist erst um 21 Uhr wieder intakt.

Die Lohrer Polizisten, verstärkt durch Würzburger Kollegen, riegeln das Zentrum mit ab, um Plünderungen zu verhindern. Um Mitternacht trifft ein Zug der Bereitschaftspolizei aus Würzburg ein, 35 Mann stark, um die Landespolizisten abzulösen. Sie werden an neun Schlüsselstellen postiert. Sie sind mit Maschinenpistolen ausgestattet und haben Weisung, nötigenfalls auch körperliche Gewalt anzuwenden und Plünderer vorläufig festzunehmen.

Helfer schlucken viel Staub und Tee

„Wir brauchen Getränke“, melden Kreisbrandinspektor Josef Schwerdhöfer und THW-Chef Walter Senger gegen 18 Uhr: Die Hilfskräfte müssen bei der Bergungsaktion viel Staub schlucken. Allein die Schwestern der Krankenhausküche kochen 280 Liter Tee für die Verwundeten und die Helfer. Rotes Kreuz und Malteser installieren Feldküchen am Schlossplatz. Die Bundeswehr in Hammelburg ist einsatzbereit, wird aber nicht aktiviert. Um 18.20 Uhr ist in einem Raum der Polizeiinspektion notdürftig die Einsatzzentrale eingerichtet. Zwei Stunden später gibt es wieder Strom – eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang.

Ein Notstromaggregat trifft ein, Lichtgiraffen sind geordert, um den Einsatzort auszuleuchten und die Straßenbeleuchtung zu ersetzen. Der Wetterbericht wird angefordert: „Mit Niederschlägen ist zu rechnen.“ Den Eigentümern der abgedeckten Häuser sollen Plastikplanen angeboten werden – gegen Entgelt.

15 Häuser werden evakuiert

Gegen 20 Uhr trifft Regierungspräsident Philipp Meyer ein. Die Häuser in der Brunnen- und Rathausgasse werden evakuiert: 15 Familien, rund 100 Personen, müssen ihre Häuser aus Sicherheitsgründen räumen. Um 21.30 Uhr werden sie per Durchsage aus dem Lautsprecherwagen aufgefordert, sich um 22 Uhr an der Grundschule zu treffen. Dort soll ein Notlager eingerichtet werden. Dieses nimmt jedoch keiner in Anspruch: Alle kommen privat unter.

0.10 Uhr: „Bergungsarbeiten werden eingestellt“, vermerkt das Einsatzprotokoll der Polizei. Vor Ort bleiben die Bereitschaftspolizei, die Beleuchter von Feuerwehr und THW sowie die Verpflegungstrupps des BRK und der Malteser.

Die Ursache

Die Explosion verursacht hat ein Bagger, der bei Grabungsarbeiten in der Rathausgasse den Hausanschluss einer Gasleitung angehoben und von der Gasuhr im Keller abgerissen hat. Knapp eine halbe Stunde lang strömt Gas in den Keller des Hauses. Ein elektrisch verursachter Funke war es wohl, der das Luft-Gasgemisch zur Explosion brachte. Ob die Bewohnerin, Margarethe Schecher, einen Lichtschalter betätigte oder einer der Kühlschränke im Keller des Ratsgrills ansprang, bleibt letztlich ungeklärt.

Dienstag, 27. Juni, 8 Uhr: Per Megafon teilt die Polizei mit, dass alle von der Katastrophe betroffenen Einwohner sich um 9 Uhr zu ersten Informationen mit Landrat Ammann und Bürgermeister Gerd Graf im BRK-Zelt auf dem Schlossplatz treffen. Um 11 Uhr hebt Amann den Katastrophenalarm auf.

Zahlreiche Schaulustige kommen in die Stadt. Polizei ordnet vorsichtshalber ein Rauchverbot für die Hauptstraße an. Wie sich herausstellt: Es wäre nicht nötig gewesen. Die evakuierten Häuser werden nach und nach wieder freigegeben. Die Sparkasse nimmt den Buchungsbetrieb im Keller wieder auf. Graf schätzt allein den Gebäudeschaden auf acht Millionen Mark, den am Rathaus auf mindestens eine halbe Million Mark. Er drängt auf Fortsetzung der Arbeiten an der Fußgängerzone „ohne Verzug“: Das Zukunftsinvestitionsprogramm ist mit Fristen verbunden. Bäcker und Metzger versorgen Helfer mit Weck und Wurst.

Fünf Trauungen im Fürstenzimmer

BRK und Werbegemeinschaft richten Spendenkonten ein. Glaser und Dachdecker haben Hochkonjunktur. Staatssekretär Albert Meyer vom Finanzministerium wird gegen 14.20 Uhr mit dem Hubschrauber eingeflogen. Fünf angesetzte Trauungen werden ins Fürstenzimmer der Schlosses verlegt.

Mittwoch, 28. Juni: Die Stadt nimmt den Betrieb im Rathaus wieder auf, richtet eine Anlaufstelle für Geschädigte ein. Der Stadtrat tagt im Foyer der Stadthalle. Graf dankt für die „vorbildliche und reibungslose“ Hilfe. Das Rathaus ist nicht einsturzgefährdet, das Dach notdürftig abgedeckt. Schiefer und gewölbte Fensterscheiben müssen bestellt werden – das dauert. Pfarrer Joachim Korbacher sagt das Pfarrfest am Wochenende ab. Die Tombola, geplant für die neue Orgel und die Kirchenrenovierung, wird in die Stadt verlagert und umgewidmet: Sie bringt 7000 Euro ein für die Opfer.

Schadensabwicklung

Donnerstag, 29. Juni: Die Lohrer Zeitung veröffentlicht acht Tipps für Schadensmeldungen. Ein Fachmann informiert, wer für welche Schäden zuständig ist, etwa für Schäden an Gebäuden, gewerblichen Einrichtungen, Hausrat, Schaufenstern, Glasscheiben in Wohnungen, Mietverlust, etc. Die Lohrer Tageszeitungen berichten von der eingehenden Erkundigung zur Ursache und beschäftigen sich mit möglichen Schuldfragen.

Freitag, 30. Juni: Eine große Trauergemeinde gibt Margarete Schecher (72) das letzte Geleit. Das Ordinariat Würzburg stellt über die Caritas 10 000 Mark zur Verfügung. Auf dem Spendenkonto sind laut Graf 20 000 Euro eingegangen. Graf bittet das Luftwaffenamt, 30 Tage lang Tiefflüge vermeiden, um die Nerven der Bürger zu schonen und damit keine losen Ziegel vom Dach fallen (was Fachleute ausschließen).

„Unbürokratisch und großzügig“

Montag, 3. Juli: Vizepräsident Franz Gerstner verspricht Hilfe „in Härtefällen rasch, unbürokratisch und großzügig“.

Zeitungsmeldung vom 4. Juli: Der Landtag verabschiedet einstimmig einen Dringlichkeitsantrag der Staatsregierung: Den Bürgern soll „schnell und unbürokratisch“ geholfen werden.

Mittwoch, 5. Juli: Staatssekretär Karl Fred Zander vom Bundesfamilienministerium informiert sich vor Ort.

116 Gebäude betroffen

14. Juli 1978: Nach Angaben der Versicherungskammer Aschaffenburg sind 116 Gebäudeschäden gemeldet worden. 37 davon liegen höher als 3500 Mark. Dazu kämen noch Schäden an Inventar und an Fahrzeugen. Das Finanzministerium gibt der Regierung von Unterfranken 1,5 Millionen Mark frei – je zur Hälfte für Darlehen und Bürgschaften von Geschädigten. Laut Regierung entstanden Schäden von drei Millionen Mark – je zur Hälfte bei Privatpersonen und öffentlichen Einrichtungen.

21. Juli 1978: Allein auf dem Spendenkonto der Stadt sind mehr als 60 000 Euro eingegangen. 250 Menschen und Institutionen trugen Beträge zwischen fünf und 10 000 Mark bei. Knapp 19 500 Euro sind ausbezahlt.

25. Oktober 1978: Die Polizeiinspektion Lohr legt ihren Abschlussbericht vor. Demnach sind die Gebäude von 109 Personen beschädigt worden. Zwar komme die Bayerische Versicherungskammer für die Schäden auf. Doch seien viele Eigentümer unterversichert.

Gerichtsverhandlung in der Stadthalle

25. Juni 1979: Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Explosion beginnt der erste Verhandlungstag des Schöffengerichts Gemünden im Café der Lohrer Stadthalle. Angeklagt sind ein Abteilungsleiter für Gas und ein Rohrmeister der Energieversorgung Lohr-Karlstadt sowie ein Bau-Polier und ein Ingenieur der Baufirma Sager&Woerner aus Lohr. Das Gericht befürchtete offenbar eine Überfüllung und forderte Polizeibeamte zur Abschirmung an. Sie werden noch vor Verhandlungsbeginn abgezogen: Die Prozessbeteiligten bleiben nahezu unter sich. Nach fünf Verhandlungstagen werden der Abteilungsleiter zur einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung und die drei anderen zu Geldstrafen zwischen 2000 und 3200 Mark verurteilt. Sowohl die Betroffenen als auch die Staatsanwaltschaft gehen in die Berufung.

Jeansverkauf im alten Gefängnis

18. Oktober 1979: Die Familie Schneebacher/Weis eröffnet das an alter Stelle neu errichtete Geschäftshaus wieder. Nach der Explosion hatte Juniorchef Klaus Weis leicht beschädigte und verschmutzte Kleidung in der Alten Turnhalle angeboten. Der Abverkauf lockte Massen von Kunden. Danach nutzen er und sein Team vorübergehend das Gefängnis (an der Stelle des heutigen neuen Rathauses) als Verkaufsraum.

Schwarzer Freitag

1. Februar 1980: Für die vier Angeklagten ist dies nach zweiwöchiger Verhandlung im Berufungsverfahren ein „schwarzer Freitag“. Statt sie freizusprechen, wie es ihre Verteidiger beantragt haben, erhöht das Landgericht Würzburg das Strafmaß gegen drei Angeklagte auf jeweils ein Jahr, gegen den vierten auf sechs Monate, jeweils auf Bewährung. Dazu verhängt es Geldbußen zwischen 3000 und 6000 Mark. Schuldig gesprochen werden sie wegen fahrlässiger Tötung in einem Fall, fahrlässiger Körperverletzung in 61 Fällen und fahrlässiger Herbeiführung einer Explosion, bei der Schaden von rund 3,2 Millionen Mark entstand. Das Gericht geht davon aus, dass „vorwerfbares menschliches Versagen sich aneinandergereiht und zu dem Unfall geführt“ hat: unvollständige Pläne über die verlegten Gasleitungen, Mängel bei der Koordination und Sorglosigkeit bei der praktischen Arbeit.

Ende Dezember 1978: Die Fußgängerzone ist fertiggestellt. Bürgermeister Gerd Graf und die beiden Dekane der Stadt übergeben sie bei einer Feuer auf dem Marktplatz vor einer riesigen Zuschauerkulisse der Öffentlichkeit.

 
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Kommentare
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  • schafstein
    Mit 25 Jahren bin ich definitiv kein Zeitzeuge, aber der Artikel ist so gut geschrieben, dass er zu Tränen rührt und man Gänsehaut bekommt. Wahnsinn, wie die Leute damals trotz fehlender Kommunikation, Hand in Hand gearbeitet und geholfen haben. Damals wie heute gilt, meinen größten Respekt an Helfer aller Organisationen, die sich ums Wohle der Allgemeinheit kümmern.
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