Die Frau sei doch offenbar selbst arm dran, raunt ein Zuschauer im Gerichtssaal, als die 49-Jährige am Morgen schwer atmend zur Anklagebank geht. Diese selbst so hilfsbedürftig wirkende Pflegehelferin soll im Altenheim in Volkach (Lkr. Kitzingen) im vergangenen November zwei dementen Bewohnerinnen heimtückisch Insulin gespritzt und sie dadurch fast umgebracht haben? Es fällt schwer, dieser Anklage zu glauben. Doch so formuliert es Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach zu Prozessbeginn am Mittwoch.
Angeklagte weint ungehemmt
Seine schwer angeschlagene Mandantin habe aus Überforderung eine falsche Entscheidung getroffen, sagt Verteidiger Peter Möckesch. Mühsam verbirgt die Angeklagte ihr Gesicht hinter einem Aktendeckel, als vier Fotografen um das beste Bild wetteifern. Schluchzend verfolgt die 49-Jährige dann die Verlesung der Anklage. Und weint so hemmungslos, dass der Vorsitzende Thomas Schuster ihr Taschentücher reicht.
Das Besondere an diesem Fall: Das Spritzen des Insulins - ohne medizinische Indikation - hatte die Pflegerin bereits zugegeben, als sie sich kurz nach der Tat gestellt hatte. Das Motiv steht nun im Zentrum des Prozesses. "Sie bleibt dabei, was sie schon damals bei der Polizei gesagt hat", betont Möckesch. Die Angeklagte sei an ihrem Arbeitsplatz in einer "akuten Überlastungssituation" gewesen.
Pflegerin wendet sich an die Angehörigen
Die 49-Jährige selbst dreht sich zu Beginn der Verhandlung zu den Zuschauern um. Und spricht zwei Angehörige der beiden Opfer direkt an: "Ich möchte mich bei ihnen entschuldigen", erklärt sie unter Tränen. "Ich weiß, dass man das nicht wieder gut machen kann. Es tut mir von Herzen leid." Die Angehörigen der Bewohnerinnen, die in Lebensgefahr geschwebt hatten, quittierten es wortlos mit einem Nicken. Auch ihnen kommen die Tränen.
Die Angeklagte, die die Sonderschule ohne Abschluss verließ, zwei Kinder hat und früher bei einem Pflegedienst arbeitete, ist seit fünf Jahren in dem Volkacher Pflegeheim tätig. Ihre Kollegen beschreiben sie als fröhlich und aufgeschlossen.
Zusammengebrochen und ein Jahr lang krank gewesen
Ein Jahr vor dem Vorfall sei sie bei der Arbeit zusammen gebrochen, schildert sie am Mittwoch dem Gericht. Ärzte hätten eine Lungenentzündung und Wasser in den Atemwegen diagnostiziert. Zwei Wochen habe sie auf der Intensivstation gelegen, teilweise im künstlichen Koma. Danach sei sie in eine Spezialklinik gekommen.
Nach einem Jahr habe sie wieder zu arbeiten begonnen. "Hat das funktioniert?", fragt der Vorsitzende. Die Antwort: "Eher schlecht als gut, ich hatte die Kraft nimmer." Die intensive Betreuung zweier dementer Seniorinnen habe sie überfordert. Aber weder ihren Kollegen, noch der Leitung des Heimes klagte sie ihr Leid.
Zweimal Notarzt gerufen - wegen Lebensgefahr
Laut Anklage soll die Frau aus dem Landkreis Schweinfurt "vermutlich gegen Ende der Frühschicht" am 8. November 2020 heimlich eine unbenutzte Insulinspritze aus dem Kühlschrank des Stationszimmers gestohlen haben. Diese "spritzte sie ohne Berechtigung während des Toilettengangs". Am Nachmittag wurde zunächst eine Seniorin bewusstlos. Eine Stunde später musste erneut der Notarzt in das Heim gerufen und das zweite Opfer in Lebensgefahr in die Klinik gebracht werden.
Bei beiden Geschädigten wurde ein lebensbedrohlicher Zustand und abnorm niedriger Blutzuckerspiegel festgestellt und "Hypoglykämie" diagnostiziert. Humaninsulin sei geeignet, einen tödlichen Verlauf herbeizuführen, sagt Oberstaatsanwalt Seebach. "Dies wurde von der Angeschuldigten auch zumindest billigend in Kauf genommen."
Umfangreiche Beweisaufnahme vor Gericht folgt
Nur durch den raschen Einsatz des Notarztes sowie die notfallmäßige Behandlung in den Kliniken "konnte ein Ableben verhindert werden", heißt es in der Anklage. Eine Seniorin hatte bereits am nächsten Tag ins Pflegeheim zurückkehren können, die andere blieb vier Tage in der Klinik.
Nun muss das Gericht in einer umfangreichen Beweisaufnahme in dem viertägigen Prozess ergründen, ob die Angeklagte eventuell einen Groll gegen die beiden Opfer hegte - was keiner ihrer Arbeitskollegen bestätigen konnte. Oder ob sie aus Verzweiflung über die eigene Schwäche handelte.