Entspannt blickt der Iphöfer Pfarrer und Kirchenrat Hanjo von Wietersheim von der Terrasse seines Hauses hoch über Castell in die Ferne. Ziemlich genau schaut er nach Norden in Richtung Hamburg und Lübeck – wenn nicht einige Höhenzüge den direkten Blick versperren würden.
In Lübeck nämlich ist er vor 63 Jahren geboren, in Hamburg war er Polizist, wenn auch nur drei Jahre lang. Die evangelische Jugend und die Rettungsorganisationen wie DLRG, THW, Rotes Kreuz und später die Feuerwehr waren die Schienen, auf denen er in seinem Berufsleben fuhr. Nach dem Abitur an einem Technischen Gymnasium wollte er erst einmal etwas Praktisches machen. So kam er zur Polizei in einer nicht einfachen Zeit, wenn man an die Anti-Atomkraft-Demonstrationen bei Brokdorf oder an die Terrorgruppe um Baader-Meinhof denkt. "Da war die Angst da, selber erschossen zu werden oder jemanden zu erschießen", erinnert er sich.
Ehefrau in Taizé kennengelernt
Also kam der Wechsel: Eigentlich wollte er nicht Theologie studieren, aber zugleich wollte er Pfarrer werden. So musste er an die Hochschule. Da ihm wie seinen Geschwistern eine Ausbildung vom Elternhaus garantiert worden war, konnte er ohne finanzielle Sorgen das Studium in Kiel beginnen.
Zwischendurch arbeitete er zwei Jahre ehrenamtlich in Taizé (Frankreich), der Heimat eines internationalen Männerordens. Ein Jahr war er hauptamtlich Rettungsassistent. In Taizé hat Hanjo von Wietersheim seine Frau Ingrid kennengelernt. 1985 war die Hochzeit. Sie lebte in Coburg, er in Kiel. "Damals musste man fürs Telefonieren noch Geld bezahlen", sagt von Wietersheim lachend. Trotz seines Abiturs an einem Technischen Gymnasium gelang es ihm, im bayerischen Neuendettelsau sein Studium fortzusetzen.
Sein Vikariat machte er in Veitsbronn. Dort war er für ihn selbstverständlich bei der Feuerwehr. Ein Einsatz war dabei ausschlaggebend für sein weiteres Leben. Damals wurde eine Frauenleiche nach einem Suizid aus einem Fluss geborgen. "Da schauten alle mich als Vikar an", erzählt der 63-Jährige. Er segnete die Tote und betete mit den Kameraden. Als die Polizei die Benachrichtigung der Angehörigen ins Gespräch brachte, fielen die Blicke wieder auf ihn.
"Wieso ist die Kirche in solchen Situationen nicht präsent?", habe er sich damals gefragt. Denn zu dieser Zeit habe es noch kein System gegeben, wie ein Seelsorger schnell zu erreichen ist. Die Idee der Notfallseelsorge war geboren, und heute ist von Wietersheim der dienstälteste Notfallseelsorger in Europa. Bei den Rettungsorganisationen sei die Initiative freundlich aufgenommen worden; in Kirchenkreisen habe man sie anfangs eher als skurril empfunden.
Organisation der Notfallseelsorge
So sammelte der Pfarrer Erfahrungen, gestaltete erste Ausbildungen. Es kristallisierte sich heraus, dass Betroffene und Rettungsorganisationen unterschiedlicher Betreuung bedürfen. Bei Rettungskräften helfe oft ein Kaugummi, ein Bonbon oder eine Zigarette, weiß von Wietersheim aus Erfahrung, nicht so bei Betroffenen. Seine Erlebnisse aus all seinen Tätigkeiten mussten in Lehrinhalte gepackt werden.
Dabei galt es, unterschiedliche Welten zusammenzubringen. Die der Blaulichtorganisationen, die im Sekundentakt versuchen, Menschen zu retten und zu helfen – und die Welt der Kirche, die in Generationen und Ewigkeiten denkt. Es reiche nicht, am nächsten Tag einen Betroffenen zu besuchen, sondern es müsse gleich geschehen – so lautet eine Erfahrung des Geistlichen. Das habe sich inzwischen gebessert.
Von Anfang an sei die Notfallseelsorge ökumenisch ausgerichtet gewesen. Auch sollte es keine Konkurrenz zwischen Kirche und Rettungsdienst geben. Logischerweise folgte die flächendeckende Einrichtung der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV). Ein Teil davon ist die Notfallseelsorge. Jetzt gebe es ein bundesweit einheitliches Curriculum.
Im Landkreis Kitzingen arbeiten 23 Leute in der Arbeitsgemeinschaft PSNV mit, davon sind nur fünf Hauptamtliche. Von Wietersheim ist der Sprecher. Eine Zeit lang will er dies auch noch in seinem Ruhestand bleiben, dann aber in andere Hände legen. Schließlich arbeitet er schon seit 30 Jahren in diesem Bereich und ist somit der dienstälteste Notfallseelsorger Europas.
Von "einem schwersten Fall" als Notfallseelsorger mag Hanjo von Wietersheim nicht sprechen. "Die Summe der Einsätze war für mich auf Dauer schwierig", bekennt er. Vor seinen elf Jahren in Iphofen war er 14 Jahre lang Pfarrer in Wiesenbronn. Dort fuhr er die meisten Einsätze. Wenn man Straßen entlangfahre, sei es zuweilen schwierig geworden, daran denken zu müssen: "Hier ist einer gestorben – dort war ein schwerer Unfall". An 9/11, also am 11. September 2001, als bei Terroranschlägen in Amerika viele Einsatzkräfte ihr Leben verloren, habe ihn das sehr mitgenommen, berichtet der Seelsorger. Daraufhin habe er eine Auszeit auf dem Schwanberg gebraucht. In der Notfallseelsorge ist eine Supervision verpflichtend. Für die Einsatzkräfte gebe es viel Präventives in der Aus- und Fortbildung. Auch gebe es eine Einsatzbegleitung – auch hinterher, erzählt der Pfarrer.
Was ihn sehr freut: dass es innerhalb der Feuerwehren gegenseitige Unterstützung gebe. Auch von Betroffenen komme hinterher immer wieder mal ein Brief. Insgesamt ist es in der Arbeitsgemeinschaft die gute Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen, die er gut findet. Denn: "Wir haben praktisch keine schönen Einsätze."
Die meiste Zeit hat Hanjo von Wietersheim mit einem Piepser gelebt. Dabei habe er lernen müssen, was noch familienverträglich sei. Seine drei Kinder sind nun erwachsen. Doch es gibt ein neues Familienmitglied: Pudel "Abu" ist ein halbes Jahr alt.
Und dann gibt es noch sein Hobby: das Schmieden in der ehemaligen Dorfschmiede Elfleinshäusla in Rödelsee ebenso wie zu Hause. Nach seinem Abitur in Metallbau hatte er nämlich tatsächlich auch an eine Schmiedelehre gedacht.
"Schmieden für den Frieden" steht auch auf seiner Liste und führt so zum "Arbeitskreis Ge(h)wissen". eine Gruppe, die sich für Demokratie und gegen Rechtsradikalismus einsetzt. Außerdem engagiert er sich zusammen mit seiner Frau Ingrid für die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Es wird ihm sicher nicht langweilig in seiner Freistellungsphase der Altersteilzeit. Die beginnt offiziell am kommenden Sonntag, wenn er in einem Gottesdienst um 14 Uhr im Garten der Iphöfer Spitalkirche verabschiedet wird.