
Ein Freitagmorgen Mitte Oktober 2024 in der Kitzinger Siedlung. Annemarie Wirsing kauft Lebensmittel ein. Sie geht immer sehr früh los, damit sie wieder daheim ist, wenn ihr Mann aufwacht. Denn Klaus Wirsing geht es nicht so gut. Er hat seit ein paar Jahren psychische und körperliche Probleme. Ärztliche Hilfe lehnt er ab. Seine Frau passt auf ihn auf und geht deshalb kaum noch aus dem Haus. Doch Einkaufen muss sie ab und zu. Als sie zurück zu ihrer Wohnung kommt, ist ihr Mann nicht da.
Wo ist er hin? Eine Nachbarin sagt, sie habe gesehen, wie er mit dem Fahrrad wegfuhr. Annemarie Wirsing überlegt: Wohin kann er gewollt haben? Früher sind sie oft gemeinsam geradelt. Ihr Mann hat in Marktsteft Handball gespielt. Vielleicht ist er dorthin gefahren? Sie steigt auf ihr Rad und fährt nach Marktsteft, sucht dort nach ihm, fragt Passanten. Niemand hat einen Mann mit einem auffälligen Bart gesehen.
THW, BRK, Feuerwehr und Polizei suchen gemeinsam
Annemarie Wirsing ruft bei der Kitzinger Polizei an. "Ich hatte gleich ein komisches Gefühl, weil mein Mann das Haus ja sonst überhaupt nicht verlassen wollte. Außerdem hatte er auf unsere Tafel in der Küche das Wort 'Danke' geschrieben." Schnell sind Beamte bei ihr. Sie beruhigen die Rentnerin und koordinieren die Suche nach dem 67-Jährigen.
Mit einem Hubschrauber und mit Spürhunden, später auch mit Wärmebildkameras und Tauchern suchen Polizeibeamte und Rettungskräfte von THW, BRK und Feuerwehr nach Klaus Wirsing. Sie suchen tagelang, viele ehrenamtlich. Ohne Erfolg. Annemarie Wirsing erlebt die schwerste Zeit ihres Lebens. Sie fahndet nach Hinweisen, nach Erklärungen. Findet keine. Nur immer mehr Fragen: Hat er das Bewusstsein verloren? Die Orientierung? Was wollte er da draußen überhaupt? Was hat das "Danke" auf der Tafel zu bedeuten?
"Da war niemand dabei, der bloß Dienst nach Vorschrift gemacht hat"
"Wenn ich in dieser Zeit nicht die Hilfe der Polizei gehabt hätte, vielleicht wäre ich durchgedreht", sagt Annemarie Wirsing. "Tagsüber konnte ich mich ablenken, aber nachts ist alles hochgekommen." Über die Kitzinger Polizeibeamten und die Kollegen der Kripo Würzburg sagt sie: "Sie waren mein Anker. Ich hatte nie das Gefühl, alleingelassen zu werden."
Während der Wochen, in denen ihr Mann vermisst wurde, lernte Annemarie Wirsing viele Polizeibeamte kennen: "Sie haben mich über jeden Schritt, den sie unternahmen, informiert. Manchmal haben sie mich abends angerufen und einfach gefragt, ob alles in Ordnung ist bei mir. Da war niemand dabei, der bloß Dienst nach Vorschrift gemacht hat." Man habe ihr klargemacht, dass sie sich jederzeit melden könne. "'Genieren Sie sich nicht', hat mir zum Beispiel Frank Schneider eingeschärft."
Bohrende Ungewissheit macht Angehörigen zu schaffen
Frank Schneider ist Leiter des Ermittlungsdienstes in Kitzingen. Er weiß aus Erfahrung: "Erst, wenn die Vermissten gefunden sind, geht die bohrende Ungewissheit weg, die den Angehörigen zu schaffen macht."
Annemarie Wirsing bestätigt das. Sechseinhalb Wochen hat sie keine Ruhe gefunden. Dann kam mit dem 8. Dezember 2024 der Tag, an dem Spaziergänger die Leiche des Vermissten zwischen Sulzfeld und Segnitz in einem Gebüsch fanden, mitsamt dem blauen Fahrrad. Die genauen Todesumstände sind nach wie vor ungeklärt. Leise berichtet Annemarie Wirsing: "Trotz der Autopsie ist fraglich, woran er gestorben ist, aber wahrscheinlich ist der Tod schon am ersten oder zweiten Tag eingetreten."
Auch nach der Todesnachricht hätten die Beamten sie bestmöglich betreut, sagt die Witwe. "Ich möchte, dass die Menschen erfahren, wie viel Polizei und Einsatzkräfte leisten, ohne dass es je publik wird."
Schwere Schicksale berühren auch Polizisten
Drei Monate nach dem Verschwinden ihres Mannes ändert sich Annemarie Wirsings Leben langsam. Die 73-Jährige hatte in den vergangenen Jahren "immer Angst, dass daheim was ist, wenn ich aus dem Haus gehe". Stück für Stück nehme sie nun wieder am sozialen Leben teil. "Auch darüber konnte ich mit den Polizisten sprechen. Ich bin voller Dankbarkeit dafür."
Ihre Worte freuen Frank Schneider und die Einsatzkräfte. "Wenn wir mit Menschen zu tun haben, ist es oft in deren schwersten Zeiten", sagt der Ermittlungsdienstleiter. Polizisten würden dafür speziell geschult, doch schwere Schicksale berühren auch sie. "Wir sind zwar Polizisten, aber halt auch Menschen", sagt Schneider, der lange bei der Kripo gearbeitet hat und schon viele Todesnachrichten überbringen musste. "Ich stelle mir immer die Frage: Wie würde ich jetzt behandelt werden wollen? Danach richte ich mich."
Wichtig ist ihm, dass Angehörige verinnerlichen: Sie selbst haben nichts falsch gemacht, es trifft sie keine Schuld am Tod des Familienmitglieds oder Freundes. "Erst wenn das klar ist, können die Hinterbliebenen gut weiterleben."