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Volkach
Mit 14 Opfer von Cybergrooming: So hat eine Volkacherin die Tat erlebt
Jennifer Köhn ist 14 Jahre alt, als sie im Internet einen Mann kennenlernt, der sich sexuell an ihr vergeht und sie erpresst. Heute ist sie Mutter - und möchte aufklären.
Jennifer Köhn im Kinderzimmer ihrer Tochter. Als 14-Jährige wurde die Volkacherin Opfer von Cybergrooming, heute möchte sie Eltern aufklären. 
Foto: Thomas Obermeier | Jennifer Köhn im Kinderzimmer ihrer Tochter. Als 14-Jährige wurde die Volkacherin Opfer von Cybergrooming, heute möchte sie Eltern aufklären. 
Sophia Scheder
Sophia Scheder
 |  aktualisiert: 08.02.2024 15:25 Uhr

Es war im Jahr 2004, ein schöner, milder Frühlingstag. Jennifer Köhn weiß es noch ganz genau. Eigentlich hätte sie draußen ein Eis essen oder die Sonne genießen sollen - so wie die anderen Mädchen und Jungen in ihrem Alter. Stattdessen sitzt die damals 14-Jährige zuhause in Volkach (Lkr. Kitzingen) vor ihrem Computer. Tippt auf der Tastatur, freut sich über die Nachrichten, die sie über den Chat erreichen.

Wie sich der Mann nannte, kann sie heute nicht mehr sagen. Seinen echten Namen wird Jennifer Köhn dafür nie wieder vergessen. Er ist angeblich 28 Jahre alt, Cabriolet-Besitzer und Neffe des Inhabers einer Modelagentur. Er möchte sich Köhn einmal anschauen, will sehen, ob sie in die Agentur passt,  verspricht ihr eine Ausfahrt im Cabrio. Es werden für Jennifer die schrecklichsten zwei Monate ihres Lebens: Erpressung, Manipulation und sexueller Missbrauch. Das Mädchen aus Volkach wird Opfer von Cybergrooming.

Was ist Cybergrooming?

Mit dem Begriff "Cybergrooming" wird der Initiative "klicksafe" zufolge die Anbahnung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige im Internet bezeichnet. Die Sensibilisierungskampagne wurde im Auftrag der Europäischen Kommission gestartet und soll die Medienkompetenz im Umgang mit dem Internet und neuen Medien fördern. Das englische Wort "grooming" bedeutet "striegeln" und steht metaphorisch für das subtile Annähern an ein Opfer. Beim "Cybergrooming" schreiben Täterinnen und Täter über Online-Plattformen gezielt Kinder und Jugendliche an. Die Strategien ähneln sich: "Ihnen allen liegt zugrunde, dass die Unbedarftheit, die Vertrauensseligkeit und das mangelnde Risikobewusstsein von Kindern und Jugendlichen ausgenutzt wird", heißt es auf klicksafe.de.

Durch Erpressung erzwingt er weitere Treffen

So auch im Fall der 14-jährigen Jennifer Köhn. Ihren Peiniger lernt das Mädchen beim Chatten auf der Seite eines lokalen Radiosenders kennen. Noch am selben Tag habe sie sich mit dem Mann getroffen, gemeinsam mit ihrer Schwester und einer Freundin, erzählt Köhn. "Ich habe ihn gesehen und wusste sofort, dass er nicht 28 Jahre alt ist. Warum da nicht sofort die Alarmglocken geschrillt haben, kann ich gar nicht sagen." Wie sich später herausstellt, ist der Mann damals bereits 40. Er holt die Mädchen mit seinem Cabrio ab, sie fahren eine Runde und landen dann in seiner Wohnung. 

Dort angekommen, habe er ihnen harten Alkohol eingeschenkt, sie gefügig gemacht, beschreibt Köhn im Rückblick. Zu dritt hätten sie sich sicher gefühlt. "Irgendwann sollte ich dann mit ihm ins Schlafzimmer gehen", erinnert sich die Volkacherin. "Um über meinen Körper zu reden wegen des Modelvertrags."

Stattdessen vergeht sich der Mann an der 14-Jährigen sexuell. Nach ein paar Stunden fährt er die Mädchen wieder nach Hause. Doch vorbei ist die Tortur für Jennifer Köhn noch lange nicht: Fast zwei Monate lang meldet sich ihr Peiniger regelmäßig bei ihr. Will sie immer wieder sehen und droht, bei einer Absage alles ihrer Mutter zu erzählen. Dadurch habe er weitere Treffen erzwungen, sagt die 31-Jährige heute.  

Cybergrooming bezeichnet die Anbahnung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige im Internet.
Foto: Thomas Obermeier | Cybergrooming bezeichnet die Anbahnung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige im Internet.

Unterfranken: Im vergangenen Jahr 72 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern

Rund 250 000 Kinder in Deutschland haben nach Angaben von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey bereits Erfahrungen mit Cybergrooming gemacht. Der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge stieg im Jahr 2019 das strafbare Einwirken auf Kinder mit technologischen Mitteln signifikant an - im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel auf insgesamt 3264 registrierte Fälle. Cybergrooming mache einen Großteil dieser Fälle aus.

Auch die Polizei Unterfranken beschäftigt das Thema, "sowohl in repressiver als auch in präventiver Hinsicht". Im Jahr 2020 gab es nach Angaben des Polizeipräsidiums insgesamt 72 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern in Unterfranken. 54 davon gehen auf das Tatmittel Internet zurück. 

"Was einmal im Netz landet, kann kaum noch gelöscht werden."
Philipp Hümmer, Pressesprecher Polizei Unterfranken

Wichtig sei, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte mit ihren Kindern beziehungsweise ihren  Schülerinnen und Schülern über die Risiken des Internets und über das Versenden persönlicher Daten und Fotos sprechen, sagt Polizeisprecher Philipp Hümmer: "Was einmal im Netz landet, kann kaum noch gelöscht werden." Immer wieder würden Mädchen und Jungen wie auch Erwachsene dem Reiz des Mediums erliegen und sich nicht ausreichend schützen. "Die Schuld liegt aber auch in solchen Fällen ausschließlich beim Täter oder bei der Täterin. Dies sollten Eltern und Fachkräfte Kindern und Jugendlichen unbedingt zu verstehen geben", rät Hümmer.

Täter versuchten Vertrauensverhältnis herzustellen

Sie habe sich "angeekelt" gefühlt, sagt Jennifer Köhn heute. Habe sich aber nicht getraut, sich jemandem anzuvertrauen. Vor allem nicht ihrer eigenen Mutter. "Das war ein wahnsinniger Druck, der da auf mir lag." Auch 17 Jahre später fällt es ihr noch schwer, über die Erlebnisse zu sprechen. "Ich war einsam zu der Zeit, Mama hat Vollzeit gearbeitet", beschreibt sie. "Natürlich war es schön, dass auf einmal jemand da war, der einem Aufmerksamkeit schenkte, jedoch war da auch immer dieses ungute Gefühl und Unbehagen." 

Die 14-Jährige hat Angst. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, zuckt sie zusammen. Wochenlang terrorisiert sie der Mann mit Anrufen.

Sie habe sich in der Pubertät oft einsam gefühlt, sagt die Volkacherin. Das habe der Mann gemerkt und es ausgenutzt. Genau die Masche von Cybergroomern, weiß Köhn heute: "Neben dem Unwohlsein des sexuellen Missbrauchs gab es allerdings auch ein gutes Gefühl, wahrgenommen und gesehen zu werden." Da sind Komplimente, Geschenke oder selbstgebackene Pizza. "Genau das ist das Fatale", sagt Köhn. Auf klicksafe.de heißt es dazu: "Oft versuchen die Täterinnen und Täter ein Vertrauens- oder Abhängigkeitsverhältnis herzustellen, um ihre Opfer manipulieren und kontrollieren zu können."

Nach zwei Monaten und vielen erzwungenen Treffen hält es das Mädchen nicht mehr aus und vertraut sich endlich seiner Mutter an. Die sei schockiert gewesen, erzählt Jennifer Köhn. Aber sie habe ihrer Tochter sofort klar gemacht: Die 14-Jährige ist hier das Opfer, und sie muss kein schlechtes Gewissen haben. Am nächsten Tag gehen sie zusammen zur Polizei und erstatten Anzeige.

Im Netz fallen die Hemmungen

Heute ist Jennifer Köhn selbst Mutter und möchte aufklären - auch über das Fernsehen. Gerade war sie Gast in der RTL-Sendung "stern TV", um von von ihrer Geschichte zu erzählen. Und sie sucht  nach Wegen, sich weiterzubilden, um in Zukunft Eltern und auch Jugendliche zum Thema Cybergrooming sensibilisieren zu können.

"Viele Eltern denken, dass ihren Kindern so etwas nicht passieren wird. Aber ich wurde auch von meiner Mutter diesbezüglich aufgeklärt - und trotzdem ist es mir passiert", sagt die Volkacherin. Mit den Jahren sei die Gefahr noch größer geworden: "Die Kinder wachsen mit dem Internet auf. Doch Eltern sollten immer wissen, mit wem und was die Kinder online machen!" Schließlich agierten die Täter im Internet anonym, dadurch fielen die Hemmungen.

Verurteil wegen sexuellen Missbrauchs in insgesamt neun Fällen

2005 kam es zum Prozess gegen ihren Peiniger. Wie sich herausgestellt hatte, war Jennifer Köhn nicht das einzige Opfer. Der damals 41-Jährige musste sich wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in insgesamt neun Fällen vor dem Landgericht Schweinfurt verantworten, teilt die Staatsanwaltschaft Schweinfurt auf Anfrage mit. Er sei bereits wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestraft gewesen. 

In Jennifer Köhns Fall wurde das Verfahren eingestellt - weil sie zum Tatzeitpunkt 14 Jahre alt war. Im juristischen Sinne kein Kind mehr ...

Tipps der Polizei: Was  Eltern und Erzieher tun können

In jedem Fall sollten sich Eltern und Fachkräfte als Vertrauensperson anbieten und Beratungsstellen und Hilfetelefone in Anspruch nehmen, um betroffenen Kindern und Jugendliche zu helfen. Infos und Beratung gibt es unter anderem hier: 
Save me online (für Jugendliche): www.save-me-online.de
Juuuport (für Jugendliche): www.juuuport.de
Make it safe (für Jugendliche): www.make-it-safe.net
Jugend Support (für Jugendliche): www.jugend.support
Bündnis gegen Cybermobbing: www.buendnis-gegen-cybermobbing.de
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (bundesweit, kostenfrei und anonym): 0800 22 55 530
Darüber hinaus kann man sich an jede Polizeidienststelle in Bayern, im aktuellen Notfall an die "110" und zur Beratung an das Opfertelefon (Durchwahl -1074) der Beauftragten der Polizei für Kriminalitätsopfer wenden.
Weil Prävention das beste Mittel ist, rät die Polizei Unterfranken: mit den Kindern über das Auftreten und Verhalten im Internet sprechen und keine Nicknamen verwenden, aus denen sich das Alter des Kindes herleiten lässt. Gemeinsam mit dem Kind die Anwendungen ausprobieren und über dort Erlebtes sprechen. Eltern sollten Kinder sensibilisieren und die digitale Welt genauso miteinbeziehen wie die reale Welt.
Quelle: Polizei Unterfranken
 
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  • P. M.
    "In Jennifer Köhns Fall wurde das Verfahren eingestellt - weil sie zum Tatzeitpunkt 14 Jahre alt war. Im juristischen Sinne kein Kind mehr ..."

    Soll das heißen ab 14 bleibt so eine Tat straffrei? Diesen letzten Satz würde ich mir etwas ausführlicher wünschen.
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