Wenn es Abend wird und der Berg ruft, schwingt sich Heinrich Wirsching auf sein E-Bike, tritt ein paar Mal kräftig in die Pedale – und schon ist der Mann dort, wo er sich immer noch am wohlsten fühlt. In der Natur. Im Weinberg. An seinem Sehnsuchtsort. Sein Leben lang ist Wirsching auf Berge gekraxelt, immer dem Gipfel entgegen, immer auf der Suche nach neuen Höhen. Nie ist er umgekehrt, stets hat er sich durchgebissen. Die Berge – sie sind zur Parabel auf sein Leben geworden.
Jetzt, mit 90, muss er nicht mehr auf Gipfel steigen. Er muss nicht mehr hoch hinaus. Er ist schon dort. Wirsching, der Grandseigneur des gleichnamigen Weinguts, hat von der Iphöfer Ludwigstraße aus ein kleines Imperium aufgebaut: das größte Privatweingut Frankens, das heute 91 Hektar Rebfläche bewirtschaftet. Und obwohl es ihn von Zeit zu Zeit immer noch hinauf auf die Berge zieht, ist er als Mensch immer auf dem Boden geblieben.
An einem sonnengefluteten Nachmittag sitzt Heinrich Wirsching in der holzgetäfelten Stube seines Weinguts mitten in der Altstadt. Von draußen hört man das Telefon klingeln, in der gläsernen Probierstube seiner Önothek plaudert ein Sommelier mit Gästen. Es ist eine geschäftige und doch gediegene Atmosphäre in Räumlichkeiten, die man als Kompromiss aus Alt und Neu sehen kann. Aus Tradition und Moderne.
Mit einer Lehre bei Knauf begann Heinrich Wirschings Berufsweg
So versteht Wirsching auch sein Produkt: große Gewächse, gehaltvolle Weine, aber auch junge spritzige Tropfen. Am Abend ist er mit Freunden verabredet, natürlich zu einem guten Schoppen Wein. Jetzt sitzt er am Tisch vor einem Glas Wasser, schlägt die Beine übereinander und erzählt von den Gipfelstürmen eines Lebens, das ihn nicht geradewegs ans Ziel trug, sondern manchen Umweg aufzwang.
Wirsching war sechs, als der Zweite Weltkrieg losbrach, und zwölf, als der Krieg zu Ende ging. Bei einem Luftangriff in den späten Kriegstagen verlor er seine ein Jahr ältere Schwester. Sie starb unter den Trümmern eines Luftschutzbunkers in Kitzingen. Sie hatte an diesem Tag Schule, er nicht – Schicksal. "Sie war meine Verbündete", sagt Wirsching. Die Nachkriegsjahre erlebte er als eine Zeit des Aufbruchs und Neubeginns. Beim Gipskonzern Knauf machte er eine Kaufmannslehre, suchte sich dann eine Wirtschaftsoberschule, landete in Stuttgart und ging schließlich zum Studieren nach München: Betriebswirtschaft.
Wirsching, der Berechnende, der Zahlenmensch, hätte sich zu dieser Zeit nicht träumen lassen, mal in den elterlichen Betrieb einzusteigen, den es seit 1630 gibt. Er war der jüngste von vier Brüdern: Einer wurde Forscher, einer Mediziner, Hans übernahm das Weingut – und Heinrich machte eine Banklehre. Um beruflich voranzukommen, promovierte er. "Viele Nächte" habe ihn die Doktorarbeit gekostet. Der Titel selbst bedeutete ihm schon damals nichts – Wirsching fährt sich durchs ergraute Haar und sagt: "Völlig unwichtig." Er lächelt im Sonnenlicht.
Zwei Jahre verbrachte Wirsching in der Bank in München, "aber mein Traumberuf", sagt er, "war das nicht." Dann kam der Moment, der seinem Leben die entscheidende Wendung gab. Sein Bruder Hans sprach ihn an, ob er nicht zu ihm nach Iphofen kommen wolle. Sie könnten den Betrieb doch gemeinsam führen. "Das hat mich völlig umgehauen", erzählt er noch heute mit einem Strahlen in den bergblauen Augen. "Ich habe keine Sekunde gezögert und Ja gesagt." Er war Anfang 30 und bereit für den Neubeginn.
Sein Bruder kümmerte sich um Weinberg und Keller, er um Vertrieb und Buchhaltung. "Wir hatten nie ein Problem miteinander." Doch dem gemeinsamen Anfang mochte kein Zauber innewohnen. Ihr erster gemeinsamer Jahrgang geriet zur Katastrophe. Der Sommer 1965 war kalt und verregnet. Im Oktober waren die Trauben immer noch nicht reif. Die Lese zog sich bis in den November, knöcheltief standen sie damals im Schnee.
Sie versuchten zu retten, was kaum zu retten war. Dann kam Wirsching eine Idee. Die Frostnächte nutzten sie, um in den Silvaner-Lagen Eiswein zu lesen. Es kamen so viele Trauben zusammen, dass es für 10.000 Bocksbeutel reichte. Jeden verkaufte man für 9,50 Mark. "Die Leute waren wie narrisch", erinnert sich Wirsching. "Einer nahm gleich 120 Bocksbeutel mit." Nach kurzer Zeit waren alle Flaschen weg, obwohl es selbst der Eiswein nur auf ein Mostgewicht von maximal 100 Grad Oechsle brachte. Das schafft nach heutigen Standards schon eine gute Spätlese.
Mit der Flurbereinigung packte Heinrich Wirsching ein heißes Eisen an
Zwölf Hektar Rebfläche bewirtschafteten die Wirschings damals. Manche Flächen aber erreichten sie auf normalen Fahrwegen gar nicht. Ein Problem nicht nur für seinen Betrieb. Wirsching war klar: So werde der Weinbau in Iphofen kaum überleben. Um den zersplitterten Besitz der Winzer zu bündeln und besser bewirtschaften zu können, schlug er eine Flurbereinigung vor. Keine leichte Aufgabe, die mehr als 300 Grundstücksbesitzer von seiner Idee zu überzeugen.
Er schaffte es in seiner jovialen Art, abends bei zwei, drei Gläsern Wein. Vielen konnte er vermitteln, dass die Bodenreform für sie Chance und Segen zugleich sein würde. Mitte der 1970er-Jahre war es so weit und Wirsching am Ziel: Die Parzellen wurden neu geordnet. Noch heute ist er "erstaunt, dass das ohne größere Probleme möglich war".
Auch Wirsching profitierte von der Reform: Er kaufte alle Parzellen, die er kriegen konnte, mehr als 120 Grundstücke, verschuldete sich, sehr zur Sorge seiner Mutter. Er hoffte auf ein lohnendes Investment. Und schon bald trug es Zinsen. In besten Lagen – Kalb, Kronsberg und der Premiumabteilung Julius-Echter-Berg – besaß Wirsching nun Weinberge. Noch immer verkauft er 90 Prozent seiner Weine in Deutschland, ein spannender Markt seien aber auch die USA.
"Ich habe immer positiv gedacht", sagt er. "Auf halber Strecke umkehren, das kam nie in Frage." Und so wird er, so lange die Kraft reicht, auch um das nächste große Gemeinschaftsprojekt kämpfen: die Weinbergsbewässerung. "Die Zukunft des Iphöfer Weinbaus hängt davon ab – wie damals die Flurbereinigung", sagt Heinrich Wirsching. Nicht alle sehen das so. Ob und wann sie kommen wird, ist noch nicht endgültig klar.
Der frühe Tod des Bruders war für Wirsching ein harter Schlag
1990 starb Wirschings Bruder Hans an Leukämie, mit gerade 60 Jahren – ein harter Schlag. Mittlerweile hat sich auch Heinrich Wirsching vom operativen Geschäft verabschiedet. Den Betrieb führt seine älteste Tochter Andrea. Aber noch immer sieht man ihn jeden Morgen zur eigentlichen Produktionsstätte radeln, die etwas außerhalb der Altstadt liegt – und mehrmals die Woche mit dem E-Bike in die Weinberge.
Bergsteigen hat er reduziert, die Jagd ebenso, Skifahren hat er vor wenigen Jahren aufgegeben. Von einstmals fünf Geschwistern lebt nur noch eine jüngere Schwester. Regelmäßig besuchen ihn und seine Frau Jutta die fünf Kinder und acht Enkel. An diesem Donnerstag (13. Juli) feiert Heinrich Wirsching seinen 90. Geburtstag. Er hätte ihn gerne in den Bergen verbracht, sagt er in seinem feinen Humor. Aber er weiß natürlich, dass es viele Leute gibt, die ihn in seiner Heimat auf den Gipfel heben wollen.
Das Herausragende an Heinrich Wirsching: Er wusste stets genau, was er wollte, handelte entsprechend zäh und erfolgreich wie kaum ein anderer. Vermochte Beziehungen zu knüpfen, sich deurchaus ins rechte Licht zu setzen. Registrierte früh, dass Produktion und Vermarktung beide Seiten einer möglichst goldenen Medaille sind. Deren Sammlung bis hin zu Staats- und Bundesehrenpreisen ist nahezu einmalig. Heinrich Wirsching steht vorbildlich auch dafür, dass aufgeschlossene Ältere hoffnungsvoll Jüngeren , welche im Kielwasser segeln, immer noch vieles mit auf deren Lebensweg zu geben imstande sind.