
"Als sich die Klöße meiner Mutter gerade im sachte siedenden Wasser zu lockeren Kugeln ausdehnten, gingen bei uns die Sirenen los. Wir hörten ferne Flugzeuge, im Nordosten donnerte Flak. ... Die Explosionen kamen in Wellen. Bombenteppiche fielen aus den Bombenschächten der B-17, eigentlich für die Bahnanlagen bestimmt, aber sie gingen auch auf die Stadt nieder. ... Um 11.55 Uhr hing Hitler immer noch an der Wand. ... Die Amerikaner hatten die Macht über Leben und Tod. ... Unsere Wimpern und Haare waren weiß, meine Zähne klapperten und ich konnte es nicht abstellen. B-17 verkündeten das Ende der Welt."
Lange, bevor die Bomben am 23. Februar 1945 Kitzingen zerfraßen, wurde Winfried Weiß von einer grausamen Geschichte verfolgt. Er hörte die Erwachsenen in seiner Umgebung erzählen, ein "Nest von Juden habe kleine Christenjungen und -mädchen entführt und abgeschlachtet". Und dann, 1942, passierte direkt vor den Augen des Jungen, der mit seinen Eltern in der heutigen Polizeiinspektion in der Kitzinger Landwehrstraße wohnte, das Gegenteil.
Szenen der Juden-Deportation haben sich ins Gehirn des Jungen eingebrannt
Dem kleinen Winfried, Jahrgang 1937, brennen sich Szenen ins Gehirn ein, die er als Kind nicht einordnen kann. Von seinem Versteck im Schatten der Gendarmeriestation wird er Zeuge, wie Menschen mit Gewalt aus dem Haus gegenüber getrieben werden. Authentisch und aufwühlend schildert er die Deportation von 75 Juden, die in der "Judenschule" (heute Stadtarchiv) auf engstem Raum gewohnt hatten und am 21. März 1942 zum Marsch ins Sammellager "Fränkischer Hof" gezwungen wurden, von wo aus sie wenig später ihre letzte Reise antreten mussten: ins Vernichtungslager Izbica.
Seinen eigenen Vater sieht Winfried reglos neben dem Haus stehen. Wie alle Gendarmen hatte Michael Weiß die Evakuierung zu bewachen. Der kleine Winfried in seinem Versteck hört das Schreien der Menschen, die Befehle, chaotisches Geklapper. Plötzlich rollt die Tülle einer Porzellankaffeekanne über die Straße, bis fast vor seine kleinen Füße; er weicht vor diesem glänzenden Ding zurück, tiefer in den Schatten – von nun an sind die Gedanken an diffuse Gewalt mit diesem Stück Porzellan verknüpft.
Mit 19 ausgewandert: Winfried Weiß wird in den USA Dozent für Fremdsprachen und Literatur
Wer ist dieser Winfried Weiß, der solche Szenen in Kitzingen erlebte? Bis vor kurzem kannte in Kitzingen wohl niemand seinen Namen. Dass sich das gerade jetzt, zum 80. Jahrestag der Bombardierung Kitzingens, ändert, ist einem bemerkenswerten Zufall zu verdanken.
Irgendwann nach dem Krieg muss es Weiß, der als 19-Jähriger in die USA auswanderte und Ende 1991 dort starb, gedrängt haben, all das Schreckliche und manchmal auch Schöne aufzuschreiben, das in seiner Kindheit passiert war. Er schildert zum Beispiel, wie er am 23. Februar 1945 mit Freunden auf dem Landwehrplatz spielte. Sie stellen sich vor, sie seien Flugzeuge, die russische Städte bombardieren. Plötzlich wurde aus dem Spiel blutiger Ernst.
Eine Granate zerfetzt zwei Freunde: "Heinz und Manfred hat der schwarze Feuerball verschlungen"

Dann die Szenen des 8. Mai 1945. Der knapp Achtjährige spielt mit fünf Freunden in den Trümmern – "Wir hatten den starken Drang, uns ein Haus zu bauen, eine Art Nest inmitten der Ruinen" –, als direkt unter ihnen eine Blindgänger-Granate explodiert. Zwei von Winfrieds Spielgefährten werden vor seinen Augen zerfetzt. "Heinz und Manfred hat der schwarze Feuerball verschlungen."
Zufallsfund im Regal "Geschichte"
79 Jahre später, Luitpoldbau Kitzingen: Dietmar Jung, Kitzinger Familienvater und regelmäßiger Gast der Stadtbücherei, greift im Herbst 2024 aus einer Laune heraus zu einem Buch der Autorin Marilyn Yalom im Regalabschnitt "Geschichte". "Das Cover mit Kindern vor Ruinen hat mein Interesse geweckt", berichtet der Kitzinger. Auf eine lokale Verankerung von "Die Unschuld der Opfer – Kindheit im 2. Weltkrieg" deutet nichts hin. Doch bei der Lektüre entdeckt Jung 46 Seiten voller Kindheitserlebnisse des Kitzingers Winfried Weiß.
Beim Zurückgeben des ausgeliehenen Buchs sitzt zufällig gerade die Leiterin der Stadtbücherei an der Theke. Dietmar Jung zeigt ihr das Werk. "Ich war überrascht", berichtet Sheena Ulsamer. "Das Buch ist im Jahr 2021 erschienen. Wir hatten es gekauft, weil der Blick auf Kinder und Jugendliche in Kriegssituationen für Schüler heute sicher interessant ist. Wir wussten nicht, dass es lokalen Bezug hat."
Sheena Ulsamer liest die von Kitzingen handelnden Seiten selbst, ist fasziniert von der "überwältigenden Sprache und der Kindersicht", ruft ihre Kollegin Doris Badel an, die Leiterin des Stadtarchivs, und fragt, ob ihr Winfried Weiß oder Marilyn Yalom etwas sagen. Badel verneint, verspricht aber zu recherchieren. "Ich bin ohne große Erwartungen an die Sache herangegangen", berichtet die Archivleiterin. "Und habe einen unglaublichen Schatz für Kitzingen gefunden."

In alten Meldekarteien, Adressbüchern und Stadtratsakten überprüft sie, inwieweit Weiß' Erinnerungen stimmen können. "Obwohl er noch sehr jung war, konnte er sich an Details erinnern, die er sich nicht ausgedacht haben kann", analysiert die Historikerin. Die feine Beobachtungsgabe und die fesselnde Sprache, mit der Weiß beschreibt, was er sieht und fühlt, "erzeugen sofort Bilder im Kopf".
Zum weiteren Studium nach Harvard gegangen
Doris Badel fand heraus, dass Weiß in den USA an die University of North Carolina und dann zum Graduiertenstudium in "Vergleichender Literaturwissenschaft" nach Harvard ging. Von dort holte ihn Marilyn Yalom Mitte der 60er-Jahre ans California State College in Hayward. "Yalom pflegte 25 Jahre lang einen lebhaften Austausch mit Weiß", berichtet Badel. "Sie schrieb, er erinnere sie im Aussehen und in seiner inneren Gequältheit an Kafka."

1983 erschien in Kanada ein Buch von Winfried Weiß: "A Nazi Childhood" – Doris Badel hat digitale Auszüge davon entdeckt. Das 232-Seiten-Werk fand jedoch nie seinen Weg nach Deutschland. Jetzt aber hat Sheena Ulsamer die Originalausgabe in einer wissenschaftlichen Bücherei bestellt. Wann das Buch in Kitzingen ankommt, ist noch nicht bekannt.
Erzählung aus Kindesaugen liefert wichtigen Beitrag zur Stadtgeschichte
Für Doris Badel steht ohnehin längst fest: "Winfried Weiß hat mit seiner biografischen Erzählung aus Kindesaugen einen wichtigen Beitrag zur Stadtgeschichte geschrieben, indem er auch zwei der schrecklichsten Ereignisse der Geschichte Kitzingen gefühlvoll, emotional und absolut nachvollziehbar beschreibt: die Deportation der Juden 1942 und den verheerenden Luftangriff 1945. Man meint, man sei dabei."

In den vier Jahren, in denen Marilyn Yaloms "Unschuld der Opfer" nun schon in der Stadtbücherei Kitzingen gelistet ist, wurde es 20 Mal entliehen. Den Lesern führt es nicht nur Tod und Leid vor Augen, sondern immer wieder quetscht sich auch Humor durch die geschichtsträchtigen Zeilen. Über den Einmarsch der Amerikaner am 5. April vor 80 Jahren in Kitzingen schreibt Weiß etwa:
"Ostern 1945 fiel auf den ersten April. In der Nacht zuvor ging das Gerücht, die Amerikaner seien nur noch Stunden entfernt. ... Meine Mutter holte zwei saubere Betttücher hervor. Frau Riedel sagte, alte Betttücher täten es auch, die Amerikaner würden den Unterschied nicht bemerken. Als wir am 2. April aufwachten, waren wir allein in der Gendarmerie, die Ritters, Kluges und die Riedels waren aufs Land geflohen." Am 5. April band Mutter Elisabeth Weiß ihr Betttuch an den Fahnenmast. "Die Amerikaner drangen lautlos durch den Garten ein, umstellten uns und schubsten uns nach draußen. ... Das Dritte Reich landete auf dem Schutthaufen in der Eingangshalle."
Gruß
Lorenz