Zwischen Beethoven und Chopin kann man an einem freundlichen Juni-Morgen gut beobachten, was den Menschen Robert Scheller umtreibt. Gedankenverloren sitzt er auf einer tiefen Sperrholzkiste in der fast leeren Schulkapelle und lauscht Klavierklängen einer einstigen Schülerin, die hier, im vertrauten Umfeld, ihre Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule durchspielt. Im Publikum: drei Musiklehrer, die nicht ganz zufrieden wirken mit dem, was sie hören.
Als die Musik verstummt ist, sucht Scheller Blickkontakt zu den Experten und flüstert: "Darf man klatschen?" Zum Abschied sagt er laut: "Für meine Ohren hörte sich das ganz wunderbar an." Dann ist Scheller schon wieder verschwunden, auf dem Weg zum nächsten Termin. Später, in seinem Büro, wird er sagen: "Ich bin ein Kümmerer."
Der erste Weltliche auf dem Posten des Direktors
Am Egbert-Gymnasium in Münsterschwarzach endet mit Ablauf dieses Schuljahres eine Ära. 17 Jahre hat Robert Scheller als Direktor diesen Ort geprägt, nun geht er in Ruhestand. Als er am 17. September 2002 seinen Dienst antrat, als Nachfolger des Benediktinerpaters Cornelius Hörnig, war er der erste Weltliche auf diesem Posten in der über 100-jährigen Geschichte der Schule.
Sein größtes Verdienst war es, sie zu stabilisieren und zu diversifizieren, sie zu öffnen für musisch und naturwissenschaftlich begabte Schüler – das sagen die, die ihn nur flüchtig kennen oder die Entwicklung des Gymnasiums von außen sahen. Seine imposanteste Leistung war es, Vorbild zu sein für ein zuletzt 70-köpfiges Kollegium, Schüler zu inspirieren und zu motivieren, einen Geist zu schaffen, in dem Lehren und Lernen Spaß macht – das sagen die, die ihn etwas länger kennen oder täglich mit ihm zu tun hatten.
Er verstand es, alle zu berühren, ohne an Respekt einzubüßen, Wege aufzuzeigen, wo mancher längst verzweifelte.
Scheller blickt auf die Uhr, es ist kurz nach halb acht an diesem Morgen. Am Treppenabsatz zum Haupteingang der Schule bleibt er stehen. In seinem weißen Hemd sieht er aus wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes, der alle Passagiere persönlich begrüßt. Er sei "immer präsent auf der Kommandobrücke" gewesen, hat er einmal gesagt. Keinen Tag in den vergangenen 17 Jahren hat er wegen Krankheit gefehlt, er war oft der Erste, der kam, und der Letzte, der ging, manchmal erst gegen Mitternacht.
Als die Schüler die Treppe hochlaufen, lächelt er. Sie grüßen artig, er grüßt zurück und wechselt ein paar Worte. Scheller kennt jeden seiner fast 800 Schützlinge beim Namen, er kennt ihre Noten, und gefühlt zu jedem fällt ihm noch eine nette Geschichte ein. Ihm im Schulalltag zu entkommen ist so gut wie unmöglich.
Ein Mensch, der gerne Bescheid weiß
Scheller ist ein Mensch, der gerne Bescheid weiß. Aber kaum jemand in seinem Umfeld wird behaupten, dass er dieses Wissen zum Selbstzweck nutzte. Es half ihm, sich für seine Schüler stark zu machen, für sie zu kämpfen, auch gegen Widerstände. Scheller glaubte an sie, weil er ohnehin an das Gute im Menschen glaubt. Scheller gab ihnen noch eine Chance, und manchmal noch eine, weil er wusste, dass es ihnen oft an der Reife fehlte. Deshalb war er auch ein strikter Gegner des achtjährigen Gymnasiums. Es habe den jungen Leuten ein Jahr geraubt, sich zu entwickeln.
Manchmal wirkte er wie der einsame Mönch am Meer auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich, hineingestellt in endlose Weiten. "Das Amt bringt es mit sich, dass man auch mal ganz allein dasteht", sagt Scheller. In der G8-Frage stellte er sich offen gegen die bayerische Staatsregierung – als einer der wenigen seines Rangs.
Am Mittag sitzt er in der Pausenhalle, die während der Sanierung der Schule auch Speisesaal ist, mit drei Jungen zum Essen. Es gibt Hähnchengeschnetzeltes und Spätzle. Einer der Jungen trägt ein Trikot des FC Bayern München und fragt: "Sind Sie auch Fußballfan?" Scheller lächelt und sagt: "Ja, ich bin Club-Fan." Selbst beim Fußball hat er noch ein Herz für die Schwachen und Gebeutelten.
Woher rühren all die Fürsorge und das Verantwortungsgefühl?
Als es am Nachmittag etwas ruhiger geworden ist, erzählt Scheller seine Geschichte. Geboren in Gerolzhofen, aufgewachsen in Brünnstadt, einem 200-Seelen-Dorf, in "einfachen Verhältnissen", wie er sagt. Der Vater verkaufte Landmaschinen für die BayWa. Den Sohn nahm er öfters mit auf Tour. Spargel war für die Familie unerschwinglich, aber für eine Bratwurst reichte es immer. "Das war wie ein Urlaubstag", sagte Scheller.
Als er zehn war, wurde der Vater mit ihm im Gymnasium vorstellig. "Die sagten: Das ist ja ein schönes Bürschle, aber zu klein fürs Gymnasium. Da meinte mein Vater: Entweder ihr nehmt ihn so, oder ich nehm' ihn wieder mit heim." Sie nahmen ihn. Er war der Erste im Dorf, der auf die höhere Schule ging. 1973 machte er Abitur am Würzburger Riemenschneider-Gymnasium: mit Latein, Griechisch, Deutsch und Mathe als Leistungskursen.
Mit Physik und Theologie klappte es nicht
Als er 20 war, starb sein Vater. "Von heute auf morgen wurde mir ein Stück Jugend genommen", sagt Scheller. Aber er sagt das ohne Verbitterung. Er musste von nun an da sein für die Familie, fühlte sich verantwortlich – für die Mutter, aber auch für den vier Jahre jüngeren Bruder. Scheller begann, neben dem Studium zu arbeiten. Physik und Theologie wollte er studieren und dabei den Fragen des Lebens auf den Grund gehen: Wo kommt die Welt her, wo geht sie hin? "Es muss doch ein höheres Wesen hinter allem geben", sagt er. "Sonst wäre das Leben die Strecke nicht wert, wenn man nach hinten runterfällt." Es wurde dann doch Latein und Theologie, da die Kombination mit Physik nicht möglich war.
Drei Jahre unterrichtete Scheller in Bad Königshofen, danach am Ursulinen-Gymnasium in Würzburg, unter lauter Mädchen. Als das Egbert-Gymnasium 2002 einen Schulleiter suchte, fühlte er sich geehrt durch die Anfrage des Abtes. Er war damals 49, gerade jung genug, um noch einmal etwas Neues anzufangen. Vier Wochen nahm er sich Bedenkzeit, dann sagte er zu.
Scheller prägte rasch seinen eigenen Stil. "Schulleiter", sagt er, "kann man nicht lernen." Die Tür zu seinem Büro stand immer offen, für Schüler, Lehrer, Eltern. "Kein einziges Mal hörte man von ihm, er habe keine Zeit, man solle später wiederkommen", erinnert sich ein langjähriger Weggefährte. Scheller lebt und verkörpert die humanistische, ganzheitliche Bildung, vielleicht war er deshalb so gut aufgehoben an einer kirchlichen Privatschule. Er hat die seltene Gabe, seinem Gegenüber das Gefühl zu vermitteln, man sei in diesem Moment der wichtigste Mensch auf Erden.
Selbst in den Ferien noch in der Schule
Seine Frau, eine Fachärztin, und seine drei Kinder (zwei Töchter, ein Sohn) bekamen ihn nicht so oft zu sehen, selbst in den Ferien war er zeitweilig in der Schule. Zu Ostern übte er regelmäßig zwei Wochen mit dem Latein-Leistungskurs fürs Abitur. Freiwillig. Fördern durch Fordern, das ist sein Credo. Er verlangt viel, von sich und von anderen, und er ist bereit, viel zu geben. Jetzt ist er 66 und wird den Stab weiterreichen an seinen Stellvertreter, Markus Binzenhöfer, der selbst Schüler war am EGM und 25 Jahre jünger ist als er.
Wer Scheller durch Schule und Kloster begleitet, hat Mühe, seinem Tempo zu folgen. Wo er war, war immer Leben, war immer Zukunft, wie an diesem Morgen, an dem regelmäßig junge Leute in der Tür zu seinem Büro stehen, einem Panoptikum aus kleinen Dingen – Figürchen, Holzkreuzen, Anhängern – und Biedermeier-Sofa vor Bücherwänden. Das Lächeln der Kinder, so wird er später sagen, werde ihm fehlen.
Wandern will er, sich weiter in Stiftungen einbringen, wenn er erst mal zu Hause ist. Eigentlich wäre er schon vor einem Jahr gegangen, aber weil die Schule gerade vor der umfangreichsten Sanierung ihrer Geschichte steht – einem 32 Millionen Euro teuren Umbau –, blieb er. Er hat das Projekt mit angeschoben, sich um die Finanzierung gekümmert.
Wurde er nie enttäuscht für all das Vertrauen, das er vorschoss? "Selten", sagt er. Oft sah er sich bestätigt, was ihm Kraft gab für den nächsten schweren Fall. Seine Energiequellen? Scheller überlegt kurz und sagt: "Die Familie und der liebe Gott."
Eine Super-Geschichte und das Kompliment gilt beiden: Dem, der den "Stoff" durch seinen Arbeitsstil geliefert und dem, der die nicht unbedingt typische Schulleiter-Laufbahn zu einer Story zusammengefasst hat, die auch einer bis zum Ende liest, der weder selbst am Egbert-Gymnasium war noch Kinder dort hatte.