Eigentlich mag Hans Pretzsch es nicht, wenn von einer "wissenschaftlichen Sensation" die Rede ist. "An Sensationen ist die Wissenschaft normalerweise nicht interessiert, sondern an einem systematischen Vorwärts im Verstehen der Mechanismen zu Gunsten der Lebenswelt des Menschen", sagt der Professor für Waldwachstumskunde an der Technischen Universität (TU) München. Dennoch fällt es schwer, das Thema, an dem er gerade forscht, nicht als Sensation zu bezeichnen. Es geht dabei um genetische Forschung an Bäumen. Die Buchen, die dafür untersucht werde, stammen aus dem Steigerwald bei Fabrikschleichach.
Welche Eigenschaften können vererbt werden?
Eigentlich gilt in der Vererbungslehre, dass ein Lebewesen Eigenschaften, die es im Laufe seines Lebens erworben hat, nicht vererben kann. Schulkindern wird das gerne am Beispiel eines Giraffenhalses erklärt: Dieser ist zweifellos eine Anpassung an Umweltbedingungen, um auch an Futter zu gelangen, das hoch oben in den Bäumen hängt. Entstanden ist er allerdings nicht dadurch, dass die Tiere sich nach den Baumkronen gestreckt, dadurch einen längeren Hals bekommen und diesen weitervererbt haben.
Vielmehr führen leichte Unterschiede zwischen verschiedenen Tieren der gleichen Art dazu, dass manche etwas besser, andere etwas schlechter an ihre Umwelt angepasst sind. Diejenigen, die besser angepasst sind, haben die besseren Überlebenschancen und können daher eher ihre Gene weitergeben. So werden treten diese "guten" Eigenschaften – im Giraffen-Beispiel ein längerer Hals – über viele Generationen immer deutlicher zu Tage.
Eine der ältesten Versuchsflächen der Welt
Die neuere Forschung zeigt jedoch, dass das, was bei Tieren und Menschen nicht möglich ist, bei Bäumen durchaus vorkommen kann: Genetische Untersuchungen an alten Fichten aus Kanada haben gezeigt, dass sich das Erbgut über die Jahrhunderte verändert hat und dass die Bäume diese veränderten Eigenschaften auch weiter vererben können. Nun geht es um die Frage, ob und wie stark auch andere Baumarten diese Fähigkeit besitzen. Und hier kommen die Buchen aus dem Steigerwald ins Spiel.
Die Versuchsfläche Kapelle bei Fabrikschleichach gehört zu den ältesten der Welt und wurde im Jahr 1870 angelegt, damals war der Baumbestand in diesem Teil des Waldes rund 50 Jahre alt. Die Bäume, die aus dieser Zeit noch stehen, haben heute also ein Alter von annähernd 200 Jahren. Die Versuchsfläche ist unterteilt in verschiedene Parzellen, die unterschiedlich bewirtschaftet werden. Denn: Ursprünglich ging es bei der Forschung zum Thema Wald und Bäume in erster Linie um praktische Ziele: Wie lässt sich der Holzertrag steigern? So sollte auch die Versuchsfläche im Steigerwald über die Jahrzehnte vor allem Erkenntnisse darüber bringen, bei welcher Art der Waldbewirtschaftung am Ende die größte Menge an Holz herausspringt.
Neue Methoden erschließen eine neue Welt
Ein positiver Nebeneffekt, der sich erst jetzt ergibt: Die alten Baumbestände eignen sich wunderbar für genetische Untersuchungen – zumal seit Bestehen der Versuchsfläche, also seit 150 Jahren, sowohl das Wachstum der Bäume als auch die lokalen Klimabedingungen exakt aufgezeichnet wurden. "Wenn man neue Methoden hat, erschließt sich eine neue Welt", zeigt sich Ulrich Mergner begeistert von der aktuellen Forschung. Er ist der Leiter des Forstbetriebs Ebrach und damit zuständig für die Versuchsfläche.
So bestand am Anfang der Waldwachstumsforschung nur die Möglichkeit, die Bäume oberirdisch anzuschauen und zu prüfen, wie hoch und wie dick sie werden. "Seit wenigen Jahrzehnten sind genetische Untersuchungen möglich", sagt Mergner. Noch neuer ist die Möglichkeit, nicht nur das Erbgut junger, frischer Zellen zu untersuchen, sondern auch das der alten Zellen tief im Inneren eines Baumes.
Eine Überlebensstrategie bei veränderter Umwelt
Da Bäume von innen nach außen wachsen und in jedem Jahr einen Jahresring bilden, lässt sich genau bestimmen, in welchem Jahr eine bestimmte Zelle des Baumes entstanden ist. Die spannende Frage, die nun die Forscher aus München zu klären versuchen, ist, ob und wie stark sich die jüngeren Zellen in den äußeren Schichten des Baumes genetisch von den alten Zellen tief im Inneren des Stammes unterscheiden. Dafür wurden drei Buchen gefällt, aus denen dann Scheiben herausgesägt wurden, die die Wissenschaftler zur Untersuchung mit ins Labor genommen haben.
Die Vermutung liegt nahe, dass die somatischen Mutationen – so der Fachbegriff für diese Art von genetischen Veränderungen – eine Überlebensstrategie der Bäume sind. Bei vielen anderen Lebewesen ist die Zeitspanne von einer Generation zur nächsten so kurz, dass die Evolution eine Anpassung an eine veränderte Umwelt unmöglich macht. Bei Bäumen dagegen liegen zwischen zwei Generationen viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Um mithalten zu können, müssen sie sich also auch während ihrer Lebenszeit weiterentwickeln können; zumal Pflanzen im Gegensatz zu Tieren nicht einfach weglaufen und in einer anderen Klimazone eine neue Heimat finden können.
Steckt der Klimawandel dahinter?
So vermuten die Forscher, dass es sich bei den letzten genetischen Veränderungen der Bäume vor allem um Anpassungen an den Klimawandel handeln dürfte. Doch auch wenn das Team um die Münchner Professoren Hans Pretzsch und Frank Johannes herausfinden sollte, dass sich die Bäume tatsächlich genetisch verändert haben, wäre das erst die halbe Miete. Wie soll dann der Nachweis gelingen, dass tatsächlich der Klimawandel die Ursache dafür ist?
"So etwas kann man dann über Experimente in Klimakammern herausbekommen", berichtet Hans Pretzsch. "Da werden dann ceteris paribus Bedingungen hergestellt, es wird also alles konstant gehalten, außer dem Klima; dann können die Reaktionen eindeutig ursächlich zugeordnet werden. Und so etwas ist auch in Planung."
Mit den ersten Ergebnissen zur Forschung bei Fabrikschleichach rechnet er in einigen Monaten bis hin zu einem halben Jahr. "Normalerweise ginge das schneller, aber Corona lähmt auch die Laborarbeiten etwas." Auf die Frage, welche Bedeutung diese Forschung und ihre möglichen Ergebnisse hätten, meint er: "Es wäre sehr nützlich und beruhigend zu wissen, ob und in welchem Ausmaß sich Bäume jenseits der generativen Vermehrung an veränderte Umweltbedingungen anpassen können."
Praktischer Nutzen für die Forstleute
Forstbetriebsleiter Mergner sieht in der Forschung auch einen praktischen Nutzen für die Forstleute. Für deren Umgang mit den Bäumen sei es gut zu wissen, ob die Pflanzen stark geschützt werden müssen oder ob sie sich ein Stück weit selbst an veränderte Bedingungen anpassen können.
Denn eines ist klar: Der Klimawandel passiert und viele Lebewesen werden sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen müssen. "Alle Daten, die ich bisher gesehen habe, sind ein eindeutiger Beleg, dass das menschengemacht ist", sagt Ulrich Mergner. "Gerade in der Geschwindigkeit."