
Ein weißer Storch kreist am blauen Himmel über Haßfurt. Eine letzte Runde noch, dann landet er im Horst, den das Vogelpaar hoch oben auf dem Sendemast eines Mobilfunkanbieters in der Brückenstraße errichtet hat. Das Tier, wahrscheinlich ein Männchen, bringt Futter für die Partnerin – und für den frisch geschlüpften Nachwuchs.
Unten, auf der Straße, ist die Aufregung groß. "Da sind sie wieder", ruft ein kleiner Junge entzückt, während er den Kopf in den Nacken legt, um das Geschehen zu verfolgen. Mutter und Schwester tun es ihm gleich. Die Störche von der Brückenstraße haben in Haßfurt inzwischen einige Berühmtheit erlangt. Immer wieder machen Passantinnen und Passanten Halt und beobachten das tierische Treiben im Horst.
Nachwuchs in Haßfurt inzwischen geschlüpft
"Für mich ist es eine Sensation", sagt Dietmar Will. Der 57-Jährige steht an diesem Tag ebenfalls in der Brückenstraße. Will ist Biologe. Und er ist Leiter des Sachgebiets Naturschutz der Stadt Haßfurt. Der Vogelexperte beobachtet das Weißstorchenpaar, seit es Anfang April den Sendemast bezogen hat. Damals begann der Bau des Nestes. Es folgte die etwa einmonatige Brutzeit. Inzwischen ist der Nachwuchs geschlüpft. Mindestens zwei Küken hat Will mit Hilfe seiner Kamera – ein Exemplar mit besonders leistungsstarkem Teleobjektiv – bereits erspäht. Festlegen aber möchte er sich noch nicht, zu schwierig seien derzeit die Beobachtungsbedingungen.
Wills Begeisterung über den Storchennachwuchs in der Brückenstraße kommt nicht von ungefähr. Lange Zeit machten die majestätischen Vögel, deren Flügelspannweite bis zu zwei Meter beträgt, einen großen Bogen um das Maintal im Landkreis Haßberge, zumindest bei der Wahl ihrer Brutstätte. Durchgezogen seien viele, erinnert sich Will, mit kurzem Zwischenstopp vielleicht. "Aber es ist einige Jahrzehnte her, dass Störche in Haßfurt genistet haben. Das war frustrierend."

Was aber sind die Gründe, dass die Tiere die Region in Sachen Familienplanung so lange gemieden haben? Experte Will, der auch Mitglied des Landesbundes für Vogel- und Naturschutz (LBV) sowie des BUND ist, hat dafür gleich mehrere Vermutungen: "Die vergangenen Sommer waren im Maintal besonders trocken, der Grundwasserstand niedrig." Störche, sagt er, hätten hierfür "ein besonderes Gespür". Hinzu käme die Bewirtschaftung der Mainwiesen, die in der Vergangenheit meist erst spät gemäht worden seien – auch aus Gründen des Naturschutzes. Was der Artenvielfalt dient – den Pflanzen und einigen Vögeln – erschwere für den Storch die Futtersuche. "Und letztlich können im hohen Gras auch Gefahren wie der Fuchs lauern", sagt Will.
Futtersuche nach Mäusen, Regenwürmern, Großinsekten
Inzwischen gebe es deshalb eine neue Strategie, gemeinsam erarbeitet von Naturschützerinnen und Landwirten aus der Region. Einige Wiesen werden nun früher geschnitten, andere bleiben länger stehen. "So finden die Tiere nicht nur jetzt Futter, sondern auch in den nächsten Wochen und Monaten", erklärt Will. Denn der Nachwuchs ist hungrig. Ein Jungtier verspeist bis zu 1600 Gramm Nahrung am Tag. Derzeit sucht das Storchenmännchen meist auf der frisch gemähten Grünfläche des Haßfurter Flugplatzes nach Mäusen, Regenwürmern und Großinsekten. Offenbar mit Erfolg.

Nicht nur in Haßfurt sorgt das Klappern der Schnäbel über den Dächern der Stadt neuerdings für eine Mischung aus Begeisterung und Faszination. Auch am Rande der Gemeinde Knetzgau brütet nach jahrzehntelanger Durststrecke ein Weißstorchenpaar. Und während über die beiden Weibchen im Maintal nur wenig bekannt ist, weiß Dietmar Will so einiges über die Männchen.
Den Winter im Westen Marokkos verbracht
Das Exemplar in Haßfurt etwa kam vor zwei Jahren im thüringischen Wartburgkreis zur Welt, genauer: in Gerstungen, rund 100 Kilometer Luftlinie entfernt von seinem jetzigen Nistplatz. Und das Männchen aus Knetzgau, das nicht nur beringt ist, sondern auch mit einem Miniatursender ausgestattet, stammt aus der Nähe von Singen im südlichen Baden-Württemberg. Den vergangenen Winter, das zeigen Aufzeichnungen der App "Animal Tracker", verbrachte das Tier unweit der marokkanischen Hafenstadt Casablanca.

Nach dem Rückflug, immerhin eine Strecke von mehr als 2200 Kilometern, und einem kurzen Aufenthalt im Norden Frankfurts kam es im April dieses Jahres schließlich nach Knetzgau. Seither geht der Storch vor allem im Maintal auf Futtersuche, mit Ausflügen Richtung Theres und Königsberg. Auch das verraten die Aufzeichnungen.
Während die Nisthilfen im Maintal lange verwaist blieben, nahm die Population im Nord-Osten des Landkreis Haßberge bereits in den vergangenen Jahren kontinuierlich zu. Von den sieben bekannten Storchenpaaren, die laut Naturschützern derzeit in der Region brüten, haben sich fünf im Baunachtal beziehungsweise im Itzgrund niedergelassen: in Ebern, Rentweinsdorf, Breitbrunn und Untermerzbach. Doch auch hier sind die Erfolge noch jung. Das weiß Simon Fischer aus Ebern. Der 42-Jährige, wie Will Biologe, beobachtet die Tiere in seiner Freizeit nicht nur, inzwischen steht in seinem eigenen Garten eine Nisthilfe – in der ein Storchenpaar brütet.
Der Storch als mögliches Leittier für mehr Umweltschutz
"Auch in Ebern hatten 70 Jahre keine Störche genistet", sagt Fischer. 2020 habe sich das geändert. Damals brütete ein Paar in Rentweinsdorf, "allerdings ohne Erfolg". Im folgenden Jahr seien es schließlich schon drei besetzte Nester gewesen, eines davon in Ebern. "Offenbar brauchte es eine Art Initialzündung, einen, der den ersten Schritt macht", vermutet Fischer. Und: "Heuer habe ich so viele Störche gesehen wie noch nie", sagt er. Alleine in Ebern hätten sich zehn Tiere um ein Nest gestritten. Ein möglicher Grund: Baunach und Itz führten in den vergangenen Frühjahren immer wieder Hochwasser, mit überschwemmten Auen und Wiesen als Folge. Beste Voraussetzungen für ein üppiges Nahrungsangebot also.
Tatsächlich verbinden Umweltschützer wie Dietmar Will und Simon Fischer mehr als nur nostalgische Gefühle mit der Rückkehr des Storches. Sie setzen große Hoffnung in das Tier. "Er ist ein Sympathieträger", sagt Fischer, "auch Menschen, die nichts mit der Natur zu tun haben, freuen sich über ihn." Der Storch habe das Potential, zum Leittier zu werden für den Umweltschutz in der Region. "Sie stiften bislang nicht nur Identität in den einzelnen Dorfgemeinschaften, wo die Bewohner von 'ihrem' Storch sprechen", so der 42-jährige Biologe. "Auch Kinder und Jugendliche interessieren sich, so kann man ihnen schon in jungen Jahren beibringen, wie wichtig Naturschutz ist."
Fischer ist sich sicher: Die Zahl der Störche, die zum Nisten in die Region kommen, werde in den kommenden Jahren noch zunehmen. Und eventuell profitiere auch das Maintal von den guten Bedingungen im Nord-Osten des Landkreises.

Gut möglich also, dass die Paare in Knetzgau und Haßfurt nur die Vorboten sind. Im besten Fall, so der Wunsch von Dietmar Will, markiert das Jahr 2023 nun den Beginn einer neuen Storchentradition im Maintal. Doch allzu euphorisch möchte der Biologe am Ende doch nicht sein. Zwei Monate dauere es, bis der Nachwuchs das Nest verlassen könne. "In dieser Zeit kann noch genug schiefgehen", warnt er. Besonders fatal könnte etwa ein Temperatureinbruch werden, mit Regen und schlechten Bedingungen für die Nahrungssuche.
Noch aber scheinen die bestens zu sein. Denn nach einer kurzen Fütterungsorgie auf dem Mobilfunkmast in der Brückenstraße schwingt sich das Tier wieder auf in die Luft, immer auf der Suche nach der nächsten Maus, dem nächsten Frosch, dem nächsten Regenwurm. Und immer unter dem Staunen der Fußgängerinnen und Fußgänger unten am Boden.