Hanns Martin Schleyer ist halb betäubt als seine Entführer mit ihm durch Köln rasen. Durch die Jacke hindurch hat Sieglinde Hofmann dem Arbeitgeberpräsidenten ein Betäubungsmittel injiziert. Hofmann weiß, wie man Spritzen setzt. Sie hat in Bad Königshofen Arzthelferin gelernt. Am 5. September 1977 entführt sie mit dem „RAF-Kommando Siegfried Hausner“ Arbeitgeberpräsident Schleyer. Mit mehr als 100 Schüssen töten die Terroristen dessen Fahrer und drei Polizisten. Mit Schleyer als Geisel wollen sie inhaftierte Terroristen freipressen, darunter den Kopf der RAF, Andreas Baader.
RAF-Terroristen: Von Bad Kissingen ins Ruhrgebiet
Bad Kissingen im Dezember 1970: In einem Haus in der Bergemannstraße sitzen diejenigen, die unter den Terroristen Rang und Namen haben: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe, Holger Meins und Ulrike Meinhof. Sie planen die Entführung Prominenter, um „politische Gefangene“ freizubekommen. Verleger Axel Springer, Franz Josef Strauß und der damalige Bundeskanzler Willy Brandt werden als mögliche Opfer ins Auge gefasst. Die Pläne aber wieder verworfen. Stattdessen verlagert sich die Diskussion auf Banküberfälle. Der Gruppe ist das Geld ausgegangen. Zwei Banken in Aschaffenburg fasst man näher ins Auge, doch Baader urteilt, Aschaffenburg sei für Banküberfälle „ungeeignet und zu klein.“ Nach wenigen Tagen zieht die Gruppe weiter, von Bad Kissingen ins Ruhrgebiet.
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Baader lebt in den 50er Jahren schon einmal in Unterfranken – vor seiner Zeit als meistgesuchter Terrorist Deutschlands. In Bad Königshofen besucht er das Gymnasium und wohnt im Melanchton-Heim. Nach etwa einem Jahr verlässt er die Schule wieder und kehrt zurück nach München, wo er mit seiner Mutter, Tante und Großmutter lebt.
Sieglinde Hofmann wohnt wesentlich länger in Bad Königshofen. Sie wächst im Grabfeld auf, be-ginnt nach der Schule eine Ausbildung zur Arzthelferin. „Ein sehr intelligentes Mädchen“, erinnert sich ihre damalige Chefin Käte Hügelschäffer. „Klein, schmal, unscheinbar, sehr beliebt“ – mit diesen Worten beschreibt Hartmut Knahn Sieglinde Hofmann. Er besucht Anfang der 60er Jahre mit ihr einen Tanzkurs in Bad Königshofen. „Sie wollte weiterkommen“, sagt Käte Hügelschäffer über ihre ehemalige Auszubildende. Deshalb absolvierte die bereits ausgelernte Arzthelferin zusätzlich eine Ausbildung zur Fürsorgerin, die sie mit einem Staatsexamen abschloss, erzählt Hügelschäffer.

Diesen Weg hat Ingrid Schubert, 1944 in Ebern geboren, zu diesem Zeitpunkt bereits hinter sich. Sie gehört zur ersten Generation der RAF. Zusammen mit Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und anderen befreit sie im Mai 1970 Andreas Baader. Er war wegen Brandanschlägen auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt verhaftet worden. Diese Befreiung gilt als Geburtsstunde der RAF. Von nun an wird nicht mehr nach einzelnen Personen gefahndet, sondern nach einer Gruppe, der Baader-Meinhof-Bande, die spätere RAF.
Bis Anfang der 50er Jahre lebt Ingrid Schubert in Maroldsweisach. „Ein freundliches Mädchen“, erinnert sich eine ehemalige Schulkollegin. Als Schubert und die RAF in die Schlagzeilen geraten, spricht man in Maroldsweisach schon nicht mehr viel über Schubert.

Sie war abgetaucht. Ein Teil der Baader-Meinhof-Gruppe lässt sich ab Juni 1970 drei Monate in einem Camp der El Fatah in Jordanien militärisch ausbilden. Nach ihrer Rückkehr im September überfallen Mitglieder zeitgleich drei Banken in Berlin und erbeuten mehr als 217 000 Mark. Ingrid Schubert fährt eines der Fluchtautos. Nur eine Woche später wird sie in Berlin verhaftet. 1971 wird sie zu sechs Jahren, 1974 zu einer Gesamtstrafe von 13 Jahren Haft verurteilt. Im November 1977 erhängt sie sich in ihrer Zelle im Gefängnis München-Stadelheim. Im Oktober 1986 taucht ihr Name noch einmal im Zusammenhang mit der RAF auf: Zum Anschlag auf Gerold von Braunmühl, Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, bekennt sich das „Kommando Ingrid Schubert“.
Die zweite RAF-Generation
In den 70er Jahren erschüttert eine ganze Anschlagsserie die Republik. Die zweite RAF-Generation versucht, inhaftierte Terroristen freizupressen. „Die Gefangenen rausholen, alle Kräfte auf diesen Job konzentrieren“, hatte Baader aus dem Gefängnis geschrieben. Die zweite Generation folgt und startet die so genannte Offensive ‘77. Im April ermordet die RAF Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter. Im Juli 1977 wird Jürgen Ponto, Sprecher der Dresdner Bank in seinem Haus in Oberursel getötet. Seinen Höhepunkt erreicht der Terror im Herbst 1977. Es sollte der letzte Versuch werden, die Gefangenen in Stammheim freizupressen.
Zusammen mit anderen plant Sieglinde Hofmann die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Hofmann schiebt den Kinderwagen, in dem Schnellfeuergewehre versteckt sind. Sie nehmen Schleyer als Geisel, töten seine Begleiter. Über 30 Tage bleibt Schleyer in ihrer Gewalt. Der Staat lässt sich nicht auf einen Austausch ein. Baader & Co. bleiben in Haft. Am 13. Oktober 1977 entführt ein vierköpfiges Kommando die Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit 86 Passagieren an Bord.
„Sieglinde Hofmann schiebt den Kinderwagen mit den Waffen.“
Fünf Tage später endet die Flugzeugentführung: Die GSG 9 stürmt das Flugzeug, befreit alle Geiseln. Mit im Befreiungskommando: Aribert Martin vom Kreuzberg (siehe Interview). Noch am selben Tag begehen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Am 19. Oktober wird die Leiche von Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Audi in Mühlhausen gefunden.
Sieglinde Hofmann, maßgeblich beteiligt an der Schleyer-Entführung, taucht im Nahen Osten unter. Als sie mit dem schwerkranken Peter Jürgen Boock in ein Krankenhaus nach Ostberlin reisen will, werden sie in Jugoslawien gefasst. Ein halbes Jahr später dürfen die Terroristen in den Südjemen ausreisen. Dort planen sie den Anschlag auf Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig. Mit anderen RAF-Terroristen gräbt Sieglinde Hofmann im Juni 1979 einen Stollen unter der Fahrbahn, in dem Sprengstoff deponiert wird. Der Anschlag schlägt fehl. Haig bleibt unverletzt. In Unterfranken hört man erst im Dezember 1979 wieder von Sieglinde Hofmann. Zeugen alarmieren die Polizei. Die RAF-Mitglieder Sieglinde Hofmann und Brigitte Mohnhaupt sollen sich zwei Tage in einem Hotel in Eisingen exklusiv eingemietet haben. Falscher Alarm? Bevor die Polizei eintrifft, sind die beiden Frauen jedenfalls verschwunden.
In Paris verhaftet
1980 wird Sieglinde Hofmann in Paris verhaftet und zu 15 Jahren, 1995 noch einmal zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach Bad Königshofen kehrt sie Anfang der 90er Jahre zurück. „Sie wollte ihre Mutter besuchen, die im Alter zu uns ins Spital kam“, erinnert sich Roland Schunk, Spitalverwalter und Heimleiter im Julius- und im Elisabethspital in Bad Königshofen. Mit dem Hubschrauber wird die ehemalige Terroristin eingeflogen. „Im und um das Spital postierten sich Beamte der GSG 9 und der Polizei.“ Zum Teil ist die Straße abgesperrt. „Ich kannte Sieglinde schon als kleines Mädchen“, erinnert sich Schunk. „Sie war das Nesthäkchen der Familie, freundlich, liebenswert und umgänglich.“
Als sie ankommt, sind ihre Hände mit Plastikbändern gefesselt. Schunk schneidet sie auf – in Abstimmung mit den Beamten. „Ich hätte mich gerne mal mit ihr über die ganze Sache unterhalten“, sagt Schunk. Aber nach wenigen Stunden ist der Besuch beendet, Sieglinde Hofmann kehrt zurück ins Gefängnis. Erst Ende der 90er Jahre wird sie nach 19 Jahren Haft auf Bewährung entlassen. Heute soll sie im Rheinland leben.
Die Serie Lieblingsstücke
Der Originaltext „Spurensicherung: Die RAF in Unterfranken“ von Andreas Ritter ist im Oktober 2007 erschienen.