Aribert Martin war gerade 21 Jahre alt, als er im Oktober 1977 mit der GSG 9 nach Mogadischu in Somalia aufbrach. Palästinensische Terroristen hatten die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt und 86 Passagiere aus Deutschland als Geiseln genommen. Die Terroristen drohten, die Geiseln zu töten, wenn die RAF-Häftlinge nicht freigelassen werden. 1980 verließ Martin die GSG 9, bis vor kurzem betrieb der begeisterte Ballonfahrer ein Geschäft auf dem Kreuzberg, das jetzt sein Sohn übernommen hat.
Sie waren bei der Befreiung der Geiseln in Mogadischu vor 30 Jahren dabei. Wann haben Sie erfahren, dass Sie die Maschine stürmen werden?
Als wir Richtung Magdischu geflogen sind, haben wir gewusst, was uns erwartet. Wir wussten, es sind deutsche Geiseln gefangen und uns war klar: Wir müssen sie da rausholen.
Wie haben Sie den Einsatz erlebt?
Wir waren gut vorbereitet, hatten vorher noch an einer Maschine ähnlichen Typs trainiert. Beim Einsatz sind wir sehr dynamisch und sehr zielorientiert vorgegangen. Man war zwar angespannt, aber sehr konzentriert und sehr diszipliniert.
Wie wollten Sie die Geiseln befreien?
Eine Spezialeinheit sollte den hinteren Bereich stürmen, die andere den vorderen. In einer Einheit waren je fünf Beamte. Außerdem waren Scharfschützen postiert und diejenigen, die die Einheit absicherten.
Wann wurde festgelegt, wer das Flugzeug stürmt?
Das wurde vor Ort bestimmt. Wer nicht mitwollte, hat das zum Ausdruck gebracht. Ich kann mich an einen Kollegen erinnern, der sich das nicht zugetraut hat. Das ist nicht schlimm, wichtig ist nur, dass man das vorher sagt. Das ist für alle Beteiligten besser.
Sie hatten keine Zweifel?
Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Es war für mich klar.
Haben Sie mit einem solchen Einsatz gerechnet als Sie zur GSG 9 gegangen sind?
Wir hatten in der GSG 9 klare Aufgaben. Dazu gehörte auch, ein entführtes Flugzeug zu befreien. Wir wollten den Leuten aus der Maschine helfen.
Was war Ihre Aufgabe bei der Befreiung?
Ich war in der Gruppe, die hinten rechts in die Maschine sollte. Wir standen auf einer Leiter und haben versucht, die Tür aufzumachen. Durch die Wucht, mit der sie geöffnet wurde, sind die beiden, die vor mir auf der Leiter standen, herunter gestürzt. Es war klar, dass so etwas passieren kann. So bin ich, obwohl ich ursprünglich der Dritte in der Reihe war, hinten rechts als Erster in die Maschine. Die Passagiere waren völlig überrascht und wussten gar nicht, was los ist. Deshalb habe ich gesagt: „Wir sind aus Deutschland, wir holen euch hier raus“.
Wie haben die Geiseln reagiert?
Sie waren sehr verängstigt, hatten Panik, aber wollten unbedingt raus aus der Maschine. Sie sind auf allen Vieren zum Ausgang gekrabbelt. Die Kollegen mussten aufpassen, dass die Leute nicht kopfüber aus der Maschine stürzen.
Wo waren die Terroristen?
Im vorderen Teil der Maschine. In den Verhandlungen hatte man ihnen Mut gemacht, dass sie ihr Ziel erreichen und die Baader-Meinhof-Gruppe freikommt. Sie waren in gewissem Maße leichtfertig geworden. Das hat man ausgenutzt. Unser Problem war: Wir wussten vorher nicht, wo in der Maschine die Terroristen sind. Jeder von uns musste damit rechnen, einem von ihnen gegenüberzustehen.
Standen Sie einem Terroristen gegenüber?
Nein, sie waren alle vorne. Eine brenzlige Situation gab es trotzdem: Ein Kollege hatte eine Tür an der Tragfläche eingeschlagen. Er sollte eigentlich gar nicht rein, doch plötzlich standen wir uns im Flugzeug gegenüber, beide mit dem Finger am Abzug. Wenn einer falsch reagiert hätte, hätten wir uns gegenseitig erschossen. Wir kannten uns sehr gut, waren zusammen in der Ausbildung und haben uns praktisch sofort gerochen und erkannt. Es soll auch eine Handgranate explodiert sein . . . Einer der Terroristen hatte eine Granate. Die rollte allerdings unter einen leeren Sitz und ist dort explodiert – neben einem Kollegen. Er hatte Glück, dass der Sitz die Wirkung abgefangen hat.
Haben Sie mal daran gedacht, dass auch Geiseln umkommen könnten?
Ein solches Risiko kann man nicht ausschließen. Dass nichts passiert ist, verdanken wir dem Überraschungsmoment und der Tatsache, dass wir sehr schnell reagiert haben. Wir wussten, die Terroristen müssen sofort und ohne Zögern ausgeschaltet werden. In erster Linie denkt man aber nicht daran, dass auch Geiseln getötet werden könnten. Wir wollten sie ja befreien.
Gab es einen Plan B?
Das weiß ich nicht, aber ich gehe mal davon aus. Allerdings denke ich, dass die GSG 9 nicht mehr zurück wäre. Wir hätten auf jeden Fall versucht, die Geiseln zu befreien – auch wenn uns die Terroristen gesehen hätten. Allerdings hätten wir dann wesentlich schlechtere Karten gehabt.
Was haben Sie gedacht, als Sie wussten, alles ist gut gelaufen?
Ich war sehr ruhig in den ersten Minuten nach dem Einsatz. Die Freude darüber kam erst später.
Kein euphorisches Gefühl?
Das hat bei mir ein bisschen länger gedauert. Ich war einer der wenigen, die nicht mit der Einheit sondern mit den Geiseln nach Deutschland zurückgeflogen sind. Das war Wahnsinn, das hat mich richtig berührt. Was die Leute einem erzählten, wie sie aus sich herausgegangen sind, wie dankbar sie waren. Wenn man heute darüber nachdenkt, was das für eine Leistung war, alle Passagiere zu befreien, das ist schon toll.
Wie war das nach der Ankunft in Deutschland?
Es gab einen Empfang am Flughafen in Frankfurt. Acht Tage später waren wir ins Bundeskanzleramt eingeladen. Das war eine schöne Geste mit Shake-Hands. Das Bundesverdienstkreuz haben wir auch bekommen. Aber das Wichtigste für mich war, dass die Leute befreit waren und nichts passiert ist.
Wie kamen Sie zur GSG 9?
Ich war in der Ausbildung beim Bundesgrenzschutz und wollte Hubschrauberpilot werden. Dann habe ich mich für die GSG 9 interessiert, habe mich dort vorgestellt und später die Aufnahmeprüfung absolviert. Das heißt, mich hat keiner geworben, ich bin praktisch selbst da hin.
Warum haben Sie die GSG 9 verlassen?
Ich wollte mich selbstständig machen. Einen bestimmten Grund gab es nicht. Ich war von Haus aus Selbstständigkeit gewohnt. In der GSG 9 gab es ganz klare Strukturen, denen man sich unterordnen musste. Ich wollte das nicht auf Dauer, ich wollte noch mal etwas anderes machen.
Waren Sie auch bei anderen RAF-Einsätzen dabei?
Ich habe in Köln nach konspirativen Wohnungen gesucht. Wir wollten damals Hanns Martin Schleyer finden. Wir sind über Balkone geklettert, weil vermutet wurde, dass er sich in einer der Wohnungen versteckt. Ich glaube, wir waren auch ganz nah dran, nur zwei oder drei Wohnungen daneben. Da hätte die Geschichte auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können.
Erst die Suche nach Hanns Martin Schleyer und dann gleich der Einsatz in Mogadischu?
Das ging Schlag auf Schlag. Wir waren richtig aufgeheizt in der Sache und dachten, wir müssen zusehen, dass da mal was passiert. Die Gruppe war motiviert. Als die Nachricht mit Mogadischu kam, haben wir gleich gesagt: Wir machen das jetzt.
Wie war die Stimmung in der GSG 9?
Sie war nicht euphorisch, eher kontrolliert. Keiner hat gesagt, wir machen die jetzt kalt. Es waren Leute in Geiselhaft, die müssen raus und wir sind dafür ausgebildet. Es war ganz einfach der Drang, das, was wir gelernt haben, umzusetzen, weil es erforderlich ist. Nicht mehr und nicht weniger.