
Und so sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen - frei nach Brecht entließ Marcel Reich-Ranicki einst nach dem "Literarischen Quartett" das Fernsehpublikum in die Nacht. Und nun wird man im Theater Schloss Maßbach (Lkr. Bad Kissingen) zur Spielzeiteröffnung ebenfalls mit einem besonderen Gute-Nacht-Gruß konfrontiert: mit der Gewissheit, sich nicht zwischen Leben und Tod entscheiden zu müssen, wie die Menschen in Fritz Hochwälders Schauspiel "Der Flüchtling".
Das hochdramatische Stück des österreichisch-jüdischen Autors, dem 1938 die Flucht in die Schweiz gelang, entstand 1944/45. Aber Regisseur Uwe Reichwaldt (34), Absolvent des renommierten Max-Reinhardt-Seminars, setzt längst nicht nur auf Betroffenheit. Er wendet einen dramaturgischen Eingriff an, den man eher in der interaktiven Spielewelt verortet als im Theater: Eine geheimnisvolle "Kontaktperson" (Yannick Rey) schleicht sich durch die Handlung und versucht, das Publikum an das Geschehen zu binden.

Ein Tag im Leben dreier namenloser Menschen unter einem totalitären Regime. Man kann es in einer französischen Grenzregion während des Zweiten Weltkriegs ansiedeln. Muss man aber nicht, wie bereits das Bühnenbild von Robert Pflanz (Kostüme: Jutta Reinhard) vermuten lässt. Ein düsterer Raum – das Heim des Grenzwächters und seiner Frau (Benjamin Jorns und Anna Schindlbeck). Steinernes Berghaus und gleichzeitig halbfertiger Betonbunker.
Der Grenzwächter will nur ein geruhsames, bescheidenes Leben führen
Das Ereignis, das die drei zur Entscheidung über Leben und Tod zwingt: Ein Mann (Marc Marchand) springt aus einem Deportationszug und versteckt sich im Haus des Grenzwächters. Dessen Frau gibt ihn gegenüber einer Suchpatrouille als ihren Ehemann aus. Am nächsten Morgen schickt sie den Flüchtling auf einen Pfad, der ihn außer Landes führen soll.

Weil der überwacht wird, kehrt der Mann zurück und trifft dort auf den vom Dienst heimgekehrten Grenzwächter. Der ist zutiefst schockiert, dass ihn der Fremde nötigt, eine existenzielle Entscheidung zu treffen. Ihn, der nichts weiter kennt als Pflichterfüllung, um ein geruhsames, bescheidenes Leben zu führen, er soll nun entscheiden, ob er dem Flüchtling hilft und damit sein eigenes Leben und das seiner Frau gefährdet, oder ob er den Mann tötet, um sich zu retten. Seine Frau scheint zur Flucht entschlossen.
Ob man selbst in einem falschen Leben richtige Entscheidungen treffen würde?
Und hier tritt wiederum die Kontaktperson auf und befragt völlig unerwartet eine Zuschauerin, wie die Geschichte enden soll. Dieser geniale Eingriff in das passive Rezeptionsverhalten, der durchaus das gesamte Publikum einbeziehen könnte, bringt die Wende: Spätestens jetzt spürt jede Zuschauerin, jeder Zuschauer, wie nahe am eigenen Leben eine solche Situation sein könnte, wenn Todesangst, Feigheit, Verdrängung, Gerechtigkeitsempfinden und Courage zu lebensentscheidenden Handlungen zwingen.
Ob man selbst in einem falschen Leben richtige Entscheidungen treffen würde – hier kommt das Publikum der Herausforderung näher als ihm womöglich lieb ist. Anna Schindlbeck, Benjamin Jorns, Marc Marchand und Yannick Rey überlassen im souveränen Spiel dem Publikum die Entscheidung, wie die Geschichte zu Ende geht. Und so sehen wir betroffen: Diese Frage bleibt nicht offen. Bravo!
Vorstellungen im Intimen Theater und auf Gastspielen bis 9. November. Infotelefon (09735) 235. www.theater-massbach.de