
Die Abendsonne steht noch nicht wirklich tief über Bad Kissingen. Aber die silbrigen Sonnenstrahlen dringen im richtigen Winkel durch das Laub der Bäume. Eine rot-weiße Petunien-Pyramide leuchtet den Flaneuren entgegen, noch mehr glitzert der Brunnen vor der Wandelhalle mitsamt dem König Ludwig I. aus Stein. Ein warmes Licht liegt über dem Kurpark. Alles ist Glanz und Verzierung.
Jetzt schon das Dunkel aufsuchen, das will auch Grigory Sokolov den Menschen nicht zumuten. Für gewöhnlich sind Bühne und Saal stark abgedunkelt bei seinen Auftritten. An diesem Abend dürfen die acht Lüster dezent brennen, dazu kommt ein fast pinkfarbenes Licht, das die Holzvertäfelung des Max-Littmann-Saals in eine Art Lounge-Atmosphäre taucht.
Ein Mozart-Adagio von Schmerz und Verlust
Die Hundertschaften, die den russischen Star beim Kissinger Sommer hören wollen, nehmen gespannt Platz. Die Älteren andächtig, wie es sich gehört, ein paar Jüngere schmuggeln ihr Weinglas in Reihe 16. Noch knarzt der Holzboden unter dem feinen Schuhwerk. Später, wenn sich der Trauerflor aus Mozarts h-Moll-Adagio KV540 wie Klang gewordener Schmerz ausbreitet, wird auch er stumm und nimmt auf die Ergriffenheit der Hörer Rücksicht.
Als erratisch wird das Adagio gerne bezeichnet, abirrend und unvorhersehbar in seiner Struktur. Unvorhersehbar ist diese Musik nicht, die schon in die Romantik weist. Sie erzählt vom Unvermeidlichen des Verlustes. Diese Unvermeidlichkeit zwängt Sokolov in ein Tempo, das keine Atempause lässt. Sokolov könnte den Schmerz auskosten, wenn er denn sentimental wäre. Aber es geht Mozart und seinem Interpreten darum, den Schmerz zu benennen - und am Ende musikalisch zu bannen.
Newtons Gesetz außer Kraft gesetzt
Vor dem Adagio steht Mozarts B-Dur-Sonate KV 333. Über die makellose Technik des Pianisten muss man keine Worte verlieren. Die Nuanciertheit, gepaart mit Sattheit und Dichte des Spiels sind hundertfach beschrieben worden. Das ist in Bad Kissingen nicht anders. Sokolovs Verzierungen und perlende Triller sind eine eigene Kategorie. Hier wird das Newtonsche Gesetz außer Kraft gesetzt. Schweres wird leicht und Leichtes bekommt eine Schwere und einen Ernst, dass einem ein wenig auch schauert.

Das beginnt schon im ersten Konzertteil mit kaum Bekanntem des britischen Barockkomponisten Henry Purcell. Die neun Stücke sind spieltechnisch anspruchslos, karg, hie und da mit etwas Folklore angereichert. Sokolov fesselt aber auch mit ihnen, weil jeder Ton das richtige Gewicht erhält. Und weil diese Triller-Ornamentik, die Sokolov so unnachahmlich beherrscht, nicht nur pure Schönheit ist, sondern auch wie ein Zittern der Seele klingt, wenn es sein muss.
Sechs Zugaben als ein Ritual
Bleibt noch zu vermerken, dass es wie stets bei Sokolov exakt sechs Zugaben gibt - Atemraubend-Virtuoses von Rachmaninoff bis zu Chopins donnerndem Regentropfen-Prélude - mit denen Sokolov das tosende Publikum in den Abend entlässt. Durch die großen Bäume am Ausgang geht der Abendwind. Die raschelnden Blätter übernehmen jetzt Sokolovs Kunst der Verzierung.
Es gibt nicht sehr viele beste Pianisten der Welt. Sokolov gehört unzweifelhaft zu ihnen. Wie schön, dass er dem Kissinger Sommer so lange schon seine Gunst schenkt.