Lange hat er das Publikum warten lassen, doch dann geht alles gewohnt zügig: Wie durch einen Tunnel eilt Grigory Sokolov zu seinem ganz persönlichen Fix- und Angelpunkt an diesem Abend beim Kissinger Sommer, zum Flügel auf der Bühne des gut besuchten und stark abgedunkelten Max-Littmann-Saals.
Wer den russischen Pianisten kennt, weiß, dass seine Programme über Monate dieselben oder in großen Zügen deckungsgleich sind. Bei Sokolov bedeutet dies jedoch nicht Routine oder gar Automatismus; vielmehr kommen hier große Reife und Abgeklärtheit zum Tragen. Auch diesmal: Beethovens frühe Klaviersonate Nr. 3 C-Dur op. 2/3 beginnt vom Tempo her zunächst verhalten, dafür vom Charakter her munter und klar, stark verspielt in den Kontrasten, hier triumphal in der Gestik, dort liebevoll getupft.
Feine Agogik, nuancenreiche Anschlagskultur - das sind nur einige von Sokolovs Stärken; Pedal sparsam und ausgesucht, dafür umso effektvoller in der Wirkung. Das Adagio, versunken und hingebungsvoll, getragen von großer Ruhe und Innigkeit. Im Allegro assai tanzen die Töne wie von einem Windhauch gepustet durch den Saal, losgelöst von aller Erdenschwere, bemerkenswert durchsichtig und virtuos.
Die wohlerzogene Fangemeinde wagt selbstverständlich nicht zu applaudieren
Die wohlerzogene Fangemeinde wagt selbstverständlich nicht zu applaudieren, und so kann der Meisterpianist ganz in seinem Sinne direkt in Beethovens Elf neue Bagatellen op. 119 übergehen. Jede für sich wird zum Kleinod, zum verspielten Klangzauber. Entzückender Spieldosencharakter, glöckchenspielgleich (Bagatelle D-Dur), zärtliche Huldigung, serenadenhafte Träumerei, Sturm und Drang – jegliche Emotion, jegliche Ausdrucksfacette kommt da zum Tragen. Frappierend auch hier Sokolovs Kunst des Abphrasierens: Sogstark die Annäherung an den Zielton, dann ein flinkes Abpuffern in der Anschlagsdynamik – die Hörerwartung ist ausgetrickst, die Wirkungskraft dieser Schlüsse enorm.
Nach der Pause, im zweiten "Drittel" des zugabenstarken Recitals, widmet sich die Pianistenlegende Brahms: Spätwerke hat er ausgewählt, die Sechs Klavierstücke op. 118 und Vier Klavierstücke op. 119. Äußerlich nahezu unbewegt, gießt Sokolov Musik von überirdischer Schönheit und Eleganz in den Raum, Instrument und Künstler verschmelzen zu einer Einheit. Tänzerisch und kraftvoll die Ballade, fein und filigran die Romanze, überwältigend die Intermezzi, zurückhaltend, faszinierend anmutig zelebriert. Beifallsstürme, Bravorufe – ein großer Abend mit einem genialen Künstler!