Es dauert nur wenige Sekunden. Die Finger raffen den hellgrünen Stoff, die schlanken Arme schlängeln sich in die Löcher. Ein energischer Zug, ein braun-grauer Pagenkopf und leicht gerötete Wangen tauchen auf. Das Kleid sitzt. Margarete Müller ist wieder die Lutzi.
"Maskottchen sein nenne ich es", sagt die 70-Jährige und schmunzelt. Seit neun Jahren ist sie das Gesicht des Kultfestivals "Ab geht die Lutzi" in Rottershausen (Lkr. Bad Kissingen). Geplant war das nicht. Und eigentlich steht sie auch nicht gerne im Mittelpunkt. Aber als sie gefragt wurde, "da hab ich eben spontan Ja gesagt".
Ein Jahrzehnt ist das her. Damals lockte das erste "Ab geht die Lutzi"-Festival rund tausend Besucher aus der näheren Umgebung. Heute kommen pro Tag bis zu 5000. Ein Vielfaches der Einwohnerzahl des kleinen Ortes. Ausnahmezustand. Hunderte Camper. Bratwurstduft, Bier und Ausgelassenheit. Drei Tage lang, dreißig Bands, drei Bühnen. Aber: Keinen stört’s.
Angefangen hat alles mit einer Postkarte. Und einer simplen Idee: 2010, zum 90-jährigen Bestehen des Vereins FC Einigkeit Rottershausen sollte etwas Besonderes stattfinden, etwas, dass alle mitreißt. Das abgeht wie Lutzi eben. "Die Redensart passte perfekt", sagt Organisationschef Christian Stahl. Der Name für das Open-Air war gefunden. Eine echte Lutzi gab es bei der Premiere noch nicht. Aber einen Flyer mit einer älteren Frau am Mischpult darauf. "Die Dame hatte wohl ein bisschen Ähnlichkeit mit mir", sagt Margarete Müller. Die Jugend war begeistert. Und sie plötzlich die Lutzi.
Ungewohnt ist der Rummel noch immer für die 70-Jährige. "Ich bin ja nur ein Puzzleteil bei dem Ganzen", sagt sie. "Ich stehe dazu, aber ich bin einfach lieber bescheiden."
Die vierfache Großmutter lebt in ihrem Elternhaus, mitten in Rottershausen, ihr ganzes Leben schon. Gearbeitet hat sie in verschiedenen Fabriken. In der Pfarrgemeinde war sie engagiert, im Fasching stieg sie in die Bütt. Sie liest, besucht das Theater in Maßbach und wandert gerne mit ihrer Seniorengruppe. "Ich gehe schon gerne unter Leute", sagt Müller. Nur die große Aufmerksamkeit, die scheut sie normalerweise.
Aber wenn sie "oben" ist, auf dem Festivalgelände, dann "macht es schon Spaß". Obwohl die Musik eigentlich gar nicht ihre Richtung sei. Bilder von Rockbands, Platten oder gar eine E-Gitarre sucht man in ihrem Häuschen vergeblich. "Ältere Schlager sind mir lieber", sagt Müller. Sie überlegt kurz, lächelt. "Manchmal kommen aber auch Kapellen, die auf Deutsch singen – das gefällt mir dann." Und manchmal, da traut sie sich sogar mit auf die Bühne. "Es gab schon Bands, die haben gesagt: Mensch, wenn ihr wirklich eine Lutzi habt, dann wollen wir die doch auch mal auf der Bühne haben", sagt die 70-Jährige. "Das ist dann komischerweise auch schön, dann wird man irgendwie getragen von der Menge."
Und natürlich wird sie erkannt, wenn sie im grünen Lutzi-Kleid über den Platz geht. Jugendliche fragen nach Fotos mit ihr. "Mensch, die Lutzi, die echte Lutzi", heißt es dann. Müller zuckt die schmalen Schultern. So ganz wohl fühlt sie sich nie im Blitzlicht.
Es sind vielmehr die "kleinen Begegnungen", die ihr viel bedeuten. Mit dem Mädchen etwa, dessen Großmutter im Vorjahr gestorben war und das zu ihr kam und sagte: "Ach, du bist die Lutzi? Klasse! So eine Oma hatte ich auch einmal". Dann erzählte die junge Frau von ihrem Verlust und fragte: Darf ich bei dir bleiben? "So etwas geht mir unter die Haut", sagt Müller. Das Menschliche. Und die Gemeinsamkeit.
Denn "die Lutzi" ist längst nicht mehr nur Sache der Jugend. Das ganze Dorf steht dahinter."Die Planung beginnt bereits im September", sagt Organisator Christian Stahl. Jetzt, kurz vor dem Start, "packen alle mit an". Bis zu 250 Helfer schleppen Bierbänke, hämmern, streichen. Ältere übernehmen die Nachtwache am Platz, jüngere bauen Zelte und Bühnen auf. Nach wie vor alles ehrenamtlich, viele haben sich extra Urlaub genommen. "Es ist ein reines Hobby", sagt Stahl.
200 Meter sind es von Margarete Müllers Grundstück zum Festivalgelände. Vorbei an ordentlich begrünten Vorgärten und spitzgiebeligen Häuschen. "Lutzi, bist du schon arg nervös?", ruft eine Frau aus ihrer Einfahrt. "Ja, klar", gibt Müller zu. Ein kurzer Plausch, sie wandern gemeinsam. Am Ortsrand geht es rechts über einen Feldweg zum Bühnenbereich. Felder für die Camper sind bereits umzäunt, Dixiklos werden gerade angeliefert. Zwei junge Frauen kommen Müller entgegen. Umarmungen. "Ich wollte helfen, aber im Sportheim war noch keiner von der Gruppe", sagt die eine. "Dann komm‘ ich morgen wieder." So sei das eben, sagt Müller. Jeder mache irgendwie mit, trage etwas zum Festival bei.
Das dauert heuer so lang wie nie zu vor, erstmals drei Tage. Schon am Donnerstagnachmittag geht es los. Margarete Müller will jeden Tag "hoch gehen". Natürlich. Vielleicht auch mal gemeinsam mit den Enkeln. Die besetzen ihr Gartenhaus, rücken mit dem ganzen Freundeskreis an. Die 70-Jährige genießt es, das Miteinander mit der Jugend. Nicht nur während des Open-Airs.
Zu ihrem 70. Geburtstag etwa, im November, da sei die "ganze Lutzi-Clique mit Musik, Glühwein und Würstchen" vorbeigekommen. "Das war sehr schön", sagt sie. Schlichte Worte, strahlende Augen. Ach ja, und da habe sie auch ein Paar Turnschuhe geschenkt bekommen. Die wird sie natürlich anziehen zu ihrem grünen Kleid.
Das hängt bereits seit einigen Tagen im Schlafzimmer. Zum Auslüften. Im Winter lagert es in einem Schrank auf dem Dachboden. Nun wird es wieder gebraucht. Margarete Müller fährt mit den Fingern über die braunen Blüten. Eine Näherin aus dem Dorf habe es einst geschneidert, erzählt sie. Eine Freundin ihrer Mutter. "Und diese Frau", sagt die 70-Jährige, "die hieß tatsächlich zufällig Lutzi".