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MÜNNERSTADT
"Ich war immer neugierig auf das, was kommt"
Mü Adolf Kieslich       -  Das waren noch Zeiten: Adolf Kieslich in jungen Jahren am Schalter, neben ihm an der Wand die berühmten braunen Fahrkarten aus Pappe, die ganze Generationen von Fahrschülern kannten. Archivfoto: Privat
Foto: Hosrt Kreutz | Das waren noch Zeiten: Adolf Kieslich in jungen Jahren am Schalter, neben ihm an der Wand die berühmten braunen Fahrkarten aus Pappe, die ganze Generationen von Fahrschülern kannten. Archivfoto: Privat
Isolde Krapf
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:17 Uhr
Fotoserie

Adolf Kieslich und der Münnerstädter Bahnhof werden wohl in die Annalen eingehen, denn der Eisenbahner hat nun 64 Jahre Dienst hinter sich, davon 56 in Münnerstadt. 22 Jahre lang war er Chef der Bahnagentur. Mehrfach hatte sich der Bundesbahn-Obersekretär in den vergangenen Jahren von der Stadt überreden lassen, doch noch ein Jährchen anzuhängen. Aber am 28. Dezember 2018 ist endgültig Schluss. „Man will ja mal raus aus dem Zwang“, spielt der Beamte auf die starren Öffnungszeiten seines Bahnschalters an. Ab Januar 2019 kann er dann wenigstens mal entspannt mit seiner Frau ein paar Tage lang zu den Enkelkindern in den Taunus fahren.

„Ja, dass ich aufhöre, drückt mich schon ein bisschen“, gibt der 79-Jährige dann fast widerwillig zu. Er sitzt an seinem Schreibtisch und schaut runter auf den Kugelschreiber, den er nervös hin- und herdreht. Es wird schon komisch sein, wenn er am 2. Januar 2019 nicht mehr auf die Arbeit muss. So ein Abschied tut weh. „Man müsste lügen, wenn man sagt, dass das nicht so ist.“ Die Deutsche Bundesbahn (DB) hat in einem Schreiben „mit Bedauern“ zur Kenntnis genommen, dass er seine DB-Lizenz zurückgibt. „Nein, mehr kommt da nicht. Das wäre mir auch nicht recht gewesen“, sagt Kieslich wenig glaubhaft und dreht dann noch schneller an seinem Kugelschreiber.

Vom Allgäu nach Münnerstadt

Zur Deutschen Bundesbahn kam der gebürtige Sudetenländer mit 15 Jahren eher zufällig. 1945 war er zunächst, nach der Vertreibung aus Polen, mit seiner Mutter ins Allgäu gekommen. Von dort siedelten beide 1946 nach Münnerstadt über, wo es den Großvater hinverschlagen hatte. Hier kam der Siebenjährige dann sozusagen etwas verspätet in die Volksschule. Danach sollte er unbedingt ins Gymnasium. „Aber es war damals kein Geld da. Ich wollte einfach Geld verdienen“. Kieslich schaut vor sich in die Luft, wo offensichtlich gerade der Film seines Lebens abläuft.

Eigentlich hätte er damals viel lieber Radio- und Fernsehtechniker werden wollen. Der Mann am Schreibtisch lehnt sich plötzlich zurück, während er offenbar einen Punkt an der Wand gegenüber fixiert. Dann lacht er, als ob das mit dem Radiotechniker eine wahnwitzige Idee gewesen wäre. Dabei hatte er sich doch damals die entsprechenden Kenntnisse schon angeeignet, indem er hie und da mal anderen, die am Radio schraubten, über die Schulter geschaut und selbst etwas repariert hatte.

Aber dann kam eines Tages ein Eisenbahner in die Schule und warb für die Bahn. „Da hab' ich mich beworben und bin mit 120 Leuten beim Bewerbungsgespräch in Schweinfurt erschienen.“ 15 wurden genommen – auch der 15-Jährige aus Münnerstadt war dabei. Dann folgten vier Jahre Ausbildung in Bad Neustadt. 1957 bewarb sich der 19-Jährige für die Prüfung zur Mittleren Beamtenlaufbahn. „Von 15 wurden vier zugelassen – ich war dabei.“ Der Eisenbahner lehnt sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. Man merkt: Ein bisschen stolz ist er heute noch darüber, unter den Besten gewesen zu sein. Nach der Prüfung wurde er zunächst Fahrdienstleiter in Bad Kissingen und schließlich in Mellrichstadt.

Da war noch Hektik am Bahnhof

Im September 1962 kam Kieslich nach Münnerstadt, wo er mit sieben weiteren Kollegen zusammenarbeitete. „Da gab's am Bahnhof noch sehr viel zu tun.“ Kieslich hantiert mit den Händen, um die Hektik am Bahnhof zu untermalen: Zum einen war der Lieferverkehr abzufertigen. Die Glasfabrik Liebmann brachte ihre Paletten vorbei, die Waffenfabrik Heim gab Riesenpakete mit Gewehren als Expressgut auf. Und dann gab es damals noch etliche Landwirte, die ihre Kühe und Schweine per Bahn zum Schlachthof transportierten.

Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Damals waren die Kursbücher noch hochkomplex, man hatte eine Gesamtausgabe und jeweils eins für die Bundesländer zur Verfügung. „Wenn ein Kunde zum Schalter kam, um einen Fahrschein durchs Bundesgebiet zu kaufen, dauerte das schon etwas länger“, sagt der langjährige Herr der Münnerstädter Fahrkarten und lacht wieder sein gewinnendes Lächeln. Wenn dann ein Zug kam, musste man drinnen alles stehen und liegen lassen und rausgehen, um den Zug durchzuwinken. Kieslich erinnert sich noch lebhaft: „Der Fahrkartenkontrolleur im Zug hat schon geguckt, ob man auch ja draußen stand, sonst gab's unter Umständen gleich eine Meldung an die Zentrale.“

Von Glück und Unglück

Aber auch, wenn der Zug in Münnerstadt aus irgendwelchen Gründen aufgehalten worden war, musste Kieslich stets zum Rapport bei seinem Chef, Herrn Müller, antreten. „Und da passierte immer mal unterwegs was, da brauchte bloß ein Reh oder ein Wildschwein in den Zug zu laufen“. In den 1970er Jahren hat sich mal jemand vor den Zug geworfen, erinnert sich der Eisenbahner und wird plötzlich ernst: Damals war er dann zuständig dafür, dass Polizei und Rettungswagen ausrückten.

Ein andermal meldete ihm der Schaffner eines Zuges, der gerade durchs Münnerstädter Tal fuhr, dass eine Waggontüre unterwegs offen stand. „Die dachten, da ist unterwegs jemand ausgestiegen.“ Kieslich schickte den Rettungswagen raus. „Die Helfer suchten alles ab, fanden aber niemanden.“ Erst später stellte sich heraus, dass tatsächlich ein Mann aus dem Zug gesprungen oder gefallen war, allerdings unter Alkoholeinfluss. Der Betrunkene war bis zum Thoraxzentrum hoch gelaufen und dann dort behandelt worden. „Zum Glück war ihm nichts weiter passiert. Ich wäre verantwortlich gewesen“, sagt der eingefleischte Eisenbahner und schürzt die Lippen. „Bei solchen Vorfällen stand man immer mit einem Bein im Gefängnis.“

Mit der Hand die Weichen stellen

Am Sonntag kamen damals alle möglichen Leute und wollten Wochen- oder Monatskarten kaufen. „Da war ganz schön was los.“ Aber auch während der Woche konnte Kieslich nicht über Langeweile am Schalter klagen. „Mindestens 100 Kunden pro Tag kamen da vorbei.“ Nebenbei fertigte der schwer Beschäftigte damals auch noch Expressgut ab oder nahm von den Kunden riesige Reisekoffer entgegen, die sie im Voraus bei der Bahn aufgaben. Und schließlich und endlich war er auch verantwortlich, dass die Weichen für die Gleise zuverlässig gestellt wurden. „Das haben wir damals ja noch von Hand gemacht“, sagt er stolz.

Die große Veränderung kam dann in den Jahren 1994 bis 1996, als die Fernsteuerung der Züge eingeführt wurde. Konkret bedeutete dies, dass vom Bad Neustädter Bahnhof aus die Weichen und Signale für Münnerstadt und Mellrichstadt mit umgestellt wurden. Es wurde Personal abgebaut. Die Bahnhöfe waren nur noch tageweise offen. „Das war die erste Stufe der Automatisierung im Bahnverkehr.“ Münnerstadts Zweiter Bürgermeister Bruno Eckert war damals hinterher, dass der Münnerstädter Bahnhof offen bleibt, erzählt Kieslich von dem tiefen Einschnitt in der Geschichte des Bahnverkehrs – und auch in seinem Leben. Eckert verwendete sich dafür, dass schließlich in Münnerstadt die Bahnagentur entstand.

Dann kam die Bahnagentur

Das war dem angestammten Eisenbahner ziemlich recht, denn schließlich hatte er 1971 seine Frau Gertrud geheiratet und inzwischen eine Familie gegründet. Doch zunächst galt es in jenen Tagen, die Veränderungen zu meistern: Kieslich war zwei Jahre lang abwechselnd einen Tag in Münnerstadt und einen Tag in Mellrichstadt eingesetzt. Seine Münnerstädter Kollegen verabschiedeten sich nach und nach an andere Einsatzorte.

1996 übernahm er schließlich die Bahnagentur als selbstständiger Unternehmer – mit allen Pflichten. Die Bahn stellte damals nur die Fahrkarten und das Werbematerial. Der Expressverkehr, den die Bahnspedition Ritter bis dato bewältigt hatte, war längst an einen privaten Anbieter vergeben worden. Auch den Güterverkehr hatte die Deutsche Bundesbahn ausgelagert. Es blieben also noch Fahrdienst, Fahrkarten und Kundenberatung als Aufgaben übrig.

Nach der Wende war viel los

Leicht war die Zeit für den damals angehenden Unternehmer nicht, denn seine Provision wurde am jeweiligen Umsatz bemessen. „Einige Tage lang war der Bahnhof ja geschlossen und ich hatte keinen Umsatz, also auch keine Provision.“ Doch dann wurden auch im Bahnverkehr die Auswirkungen der Deutschen Wende spürbar: Die neue Zugstrecke bis nach Meiningen wurde plötzlich sehr gut angenommen. „Da hat auch der Münnerstädter Bahnhof auf einmal wieder geboomt“. Kieslich lächelt gedankenversonnen, als er die Zeit Mitte der 1990er Jahre geistig Revue passieren lässt. Denn aus Meiningen kamen täglich per Zug zahlreiche Schüler nach Münnerstadt. „In diesen Betrieb musste ich mich erst wieder einfinden.“

Um das Jahr 2000 stellte die Bahn dann ihr Buchungssystem generell auf Computer um. Kieslich stand vor der Frage, ob er weitermachen sollte, denn er musste einen Bundesbahn-Computer leasen. Dazu kamen, wie zuvor, Miete für den Raum in Münnerstadt, Strom- und Telefonkosten, sowie neuerdings auch Kosten fürs Internet. Die Kollegen anderer Dienststellen machten die Umstellung auf Computer gar nicht mit. „Ich wollte das damals lernen und ging, im Alter von 61 Jahren, zum Seminar nach Frankfurt. Ich wollte die Agentur in Münnerstadt halten und ich war immer neugierig auf das, was kommt.“

Fahrkarten aus dem Internet

Bis 2010 lief alles ganz gut. Dann kam die Online-Buchung für die Kunden neu dazu und Kieslich überlegte wieder, ob er weitermachen sollte. Denn wer sollte noch an seinen Schalter kommen, wenn man nun die Fahrkarten im Internet buchen konnte? Die Stadt Münnerstadt stellte schließlich einen kleinen finanziellen Obolus bereit, so dass Kieslich seiner Agentur auch weiter treu bleiben konnte. „Ich hab's immer gern gemacht, weil ich hier mein eigener Herr war.“

img003       -  Adolf Kieslich Anfang der 1990er Jahre im Münnerstädter Bahnhof. Damals wurden die Weichen noch von Hand gestellt.
Foto: Hosrt Kreutz | Adolf Kieslich Anfang der 1990er Jahre im Münnerstädter Bahnhof. Damals wurden die Weichen noch von Hand gestellt.
Zum letzten Mal: Hans Hüllmandel (Mitte) und Stefan Köppen (rechts) kauften vergangene Woche bei Adolf Kieslich noch schnell ein paar Fahrkarten.
Foto: Isolde Krapf | Zum letzten Mal: Hans Hüllmandel (Mitte) und Stefan Köppen (rechts) kauften vergangene Woche bei Adolf Kieslich noch schnell ein paar Fahrkarten.
Der Vorhang am Schalter bleibt endgültig zu, denn Adolf Kieslich geht in Ruhestand.
Foto: Isolde Krapf | Der Vorhang am Schalter bleibt endgültig zu, denn Adolf Kieslich geht in Ruhestand.
 
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  • alfred-breunig@gmx.de
    In der Tat: jammerschade! So etwas wird es nicht mehr geben. Schönen Ruhestand und viel Gesundheit!
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  • Funkenstern
    Ich kenne ihn noch in "Aktion" aus meiner Schulzeit am Gymnasium.
    Eine unglaubliche Lebensleistung ob der Widrigkeiten der DB.
    Ich ziehe meinen Hut und wünsche einen langen, gesunden Unruhestand!
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  • hessdoerferth
    Wir werden ihn ganz sicher sehr vermissen.
    Alles Gute im wohlverdienten Ruhestand.
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