„Das schaffen Sie schon“, sagt Adolf Kieslich und schiebt der Frau das Bayernticket durch den Sicherheitsschlitz am Schalter. Vor 20 Jahren sei sie das letzte Mal Bahn gefahren, gesteht sie ihm, jetzt will sie mit einer Gruppe Schüler am Wochenende zu einem Schachturnier. Für Kieslich ist jeder Kunde König, er ist in Münnerstadt so etwas wie die personifizierte Bundesbahn.
Im Herbst werden es 50 Jahre, in denen der Bahnhof sein Arbeitsplatz ist. Zum Anstoßen ist schon lange keiner mehr da, die vergangenen 15 Jahre verbrachte der 71-Jährige allein in seinem kleinen Büro. Es sei denn, es schaut mal jemand zum Plaudern vorbei. Doch oft ist dazu gar keine Zeit.
Kein Job zum Ausruhen
Ein Job zum Ausruhen ist die Agentur, eine von gut 45 landesweit, nämlich nicht. 30 Stunden die Woche verkauft Kieslich Fahrkarten, fahndet an seinem Computer nach den besten Routen und erklärt den Fahrgästen, wo sie umsteigen müssen. Vor allem nach den Schulferien oder vor den Wochenenden geht es Schlag auf Schlag. Denn obwohl auf dem Bahnsteig auch ein Fahrkartenautomat steht, kaufen viele Schüler und Pendler ihre Monatskarten lieber bei Kieslich.
Die älteren Fahrgäste, denen die Maschine etwas suspekt ist, kommen sowieso meistens zu ihm. „Viele Leute bevorzugen den persönlichen Kontakt“, weiß Kieslich. Mindestens noch bis Ende dieses Jahres will er weitermachen. Was dann kommt, mag er jetzt noch nicht entscheiden. „Ich muss gesund bleiben“, sagt er. Wenn sich hier nichts Entscheidendes ändert, wird er den Mürschtern wohl noch lange erhalten bleiben. „Ich hab' noch keinen Tag wegen Krankheit gefehlt“, lächelt er und ist schon ein wenig stolz darauf.
Seit 58 Jahren ist Kieslich bei der Bahn. Nach der vierjährigen Lehrzeit in Bad Neustadt arbeitete er von 1958 bis 60 in Bad Kissingen und dann bis 1962 in Mellrichstadt, bevor er nach Münnerstadt versetzt wurde. Als der Schalterbetrieb dort 1996 geschlossen wurde, eröffnete er die Agentur. Anfänglich stellte er noch alle Fahrkarten handschriftlich aus und wälzte dicke Kursbücher, um die richtigen Fahrstrecken auszuwählen. „Das war schon sehr kompliziert“, erinnert sich Kieslich.
Fünf Jahre später stellte die Bahn ihr Buchungssystem um und Kieslich stand vor der Frage, ob er weitermachen sollte. Allein 800 D-Mark berechnete ihm die Bahn für die Nutzung des Programms. Dazu kamen Miete für den Raum, Internet-, Strom- und Telefonkosten.
Gelohnt hat es sich trotzdem, denn nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze hatte der Bahnverkehr merklich zugenommen. Heute fahren durch den Münnerstädter Bahnhof täglich über 50 Züge, mehr als doppelt so viele, als noch in den frühen 90er Jahren.
Nur in den Urlaub auf Schienen
Zudem habe die Bahn durch Sonderangebote und verbilligte Tickets viele Reisende zurückgewonnen, freut sich Kieslich, der auch nur mit dem Zug fährt, wenn er und seine Frau an die Nordsee in den Urlaub fahren oder ihre Kinder besuchen wollen.
Im täglichen Geschäft fallen natürlich meist Fahrscheine für nicht allzu ferne Distanzen an, es gibt aber auch Leute, die von Münnerstadt aus mit der Bahn in die große weite Welt starten. Und so kommt es schon mal vor, dass Kieslich Tickets bis nach Moskau, London oder Paris ausstellen muss. Und dann waren da natürlich auch die Ferienkinder aus der Ukraine, die bis nach Kiew unterwegs waren.