Einfach auf die Straße gehen. Einkaufen. Spazieren. Kaffee trinken. Normaler Alltag. Für Basima N. (Name von der Redaktion geändert) nicht. Bis vor wenigen Wochen traute sie sich kaum aus ihrer Wohnung. Helle Räume, Blumen auf dem Fenstersims, das breite Sofa lockt mit weichen Kissen. Ein Zuhause eher als ein Fluchtversteck. Die Tür aber öffnet die junge Mutter nur, wenn sie weiß, wer davor steht. Basima N. sitzt am Esstisch, ein dünnes Seidentuch locker um den Hals, die Handflächen unter die Oberschenkel geschoben. „Ich hatte viel Angst“, sagt sie. Um sich, um ihre drei Kinder. Ihr Blick verdunkelt sich.
Ihr Mann misshandelte Basima N. massiv
2013 kam Basima N. gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Mittleren Osten nach Deutschland. Sie suchten einen Neuanfang. Für N. wurde es ein Gefängnis. Ihr Mann schlug und misshandelte sie massiv, physisch und psychisch, nahm ihr das Selbstvertrauen. Statt wie in ihrer Heimat an einer englischen Schule arbeiten zu können, kümmerte sie sich nur noch um die jüngste Tochter, die schwer behindert ist. Regelmäßig musste sie mit dem Kind zu Untersuchungen ins Krankenhaus. Dabei fielen Ärzten irgendwann ihre Verletzungen auf, die nicht von einem Sturz, wie N. behauptete, stammen konnten. Fragen wurden gestellt, N. bekam Hilfe. Die Mediziner vermittelten sie in ein Frauenhaus. Sicher fühlte sie sich dort nicht. N. floh mit ihren Kindern nach Unterfranken. Ihr Bruder, der ebenfalls in Deutschland lebt, wandte sich an die Flüchtlingsberatung, bat um Unterstützung für die 29-Jährige.
„Zu Beginn haben wir uns manchmal jeden Tag getroffen“, sagt die Sozialpädagogin Veronika Richler. Weil es nötig gewesen sei. Richler arbeitet für die Hilfsorganisation Solwodi (Solidarity with Women in Distress, auf Deutsch: Solidarität mit Frauen in Not), die sich für Opfer von Menschenhandel, Ausbeutung, Gewalt oder Zwangsheirat einsetzt. Sie besuchte Basima N. zuhause, unterstützte bei der Klärung ihres Aufenthaltsstatus, prüfte, welche Leistungen für die gesunden Kinder und das schwerkranke Kind beantragt werden konnten. Formulare ausfüllen, zu Behörden begleiten, den Alltag organisieren. Die Aufgaben, die Richler für ihre „Klientinnen“, wie sie sagt, übernimmt, ähneln sich. Vor allem aber geht es darum, da zu sein. Zuzuhören. Vertrauen aufzubauen. Und dann zu helfen, ganz praktisch.
2001 entstand in Bad Kissingen die bayernweit erste Solwodi-Beratungsstelle
So stapeln sich im Solwodi-Büro in Bad Kissingen, der einzigen Beratungsstelle in Nordbayern, Schultaschen, Kinderspielzeug und Winterkleidung. Bücher, dicke Decken und Teddybären füllen Plastikkisten. Ein Puppenhaus steht auf dem Schreibtisch. „Viele unserer Frauen haben Kinder“, erklärt Richler. Die werden mit Spenden der Kissinger Tafel und anderer Unterstützer versorgt. An der Wand hängen Fotos von Solwodi-Festen, lachende Gesichter. Richler gehört seit gut einem Jahr zu dem vierköpfigen Team. Aufgebaut wurde es von Renate Hofmann, die aus dem Landkreis Bad Kissingen stammt.
„Ich war auf der Suche nach einer neuen Herausforderung“, sagt Hofmann lapidar. Die Sozialpädagogin, die zuvor lange mit psychisch Kranken gearbeitet hatte und in der Solwodi-Zentrale in Boppard tätig gewesen war, gründete 2001 in Bad Kissingen die bayernweit erste Beratungsstelle der Hilfsorganisation. „Weil es hieß, in Bayern gebe es fast keine Probleme mit Menschenhandel und Zwangsprostitution“, sagt die 59-Jährige und ihre Augenbrauen wandern bis fast an den Ansatz der kurzen grauen Haare. „Das wollte ich sehen.“
Die Betreuung der misshandelten Frauen bringt manchmal an Grenzen
Heute gibt es im Freistaat Fachberatungen in Passau, Augsburg, München, Regensburg und eben in der unterfränkischen Kurstadt. Neben den Büroräumen gehört dazu auch eine Schutzwohnung für vier Frauen mit Kindern. Ein Besuch ist nicht möglich, aus Sicherheitsgründen. Dort sollen die ausgebeuteten und misshandelten Frauen zur Ruhe kommen. „Ruhig geht es da aber selten zu“, gibt Hofmann zu. Schlichten, Regeln durchsetzen, beraten, trösten, stützen. All das übernimmt Galina Esin. Hofmann unterstützt die Solwodi-Mitarbeiterin dabei. Ein Vollzeitjob, der manchmal an Grenzen bringt. „Natürlich gibt es bei den betreuten Frauen Suizidgedanken und depressive Verstimmungen“, sagt die 59-Jährige. Aber auch Lachen.
Während Galina Esin vor allem für die Frauen in der Schutzwohnung zuständig ist, kümmern sich Veronika Richler, Renate Hofmann und Schwester Daniela Kubiak von der Kongregation des Guten Hirten um die anderen „Klientinnen“. Um Frauen in Gemeinschaftsunterkünften oder Erstaufnahmeeinrichtungen, um traumatisierte und verfolgte Frauen, um Frauen aus Afrika, Syrien, Afghanistan oder arabischen Ländern. Um die, die bisher keine Verantwortung für sich übernehmen durften und mussten. Die oft unterdrückt und misshandelt wurden und nie gelernt haben, eigene Entscheidungen zu treffen. Wie Basima N.
„Du darfst dich frei bewegen, du kannst alles machen“
„Früher habe ich immer gedacht, alleine, ohne Mann, kann die Frau gar nichts schaffen“, sagt N. „Aber hier haben sie gesagt: Nein, du darfst dich frei bewegen, du kannst alles machen.“ Sie hebt den Kopf, lächelt. „Langsam lerne ich das.“ Richler nickt. Mittlerweile kennt N. ihre Nachbarn, die Kinder spielen zusammen, sie hat Deutsch gelernt. Ab Dezember, wenn die behinderte Tochter in einen speziellen Kindergarten kommt, will sie arbeiten. Eine gute Phase sei das gerade, sagt Richler. N. hat weniger Angst, die Erinnerungen schlafen. „Wenn ich manchmal wieder an ihn denke, dann höre ich sofort Musik. Ich will das nicht. Die Zeit mit ihm war schlimm“, sagt N. Wo sich ihr Mann aufhalte, sei unbekannt. Immer wieder habe er versucht, N. und die Kinder zu finden, durch Drohungen zurückzuholen. Immer wieder wechselte sie die Telefonnummer. Ihre Adresse kennt kaum jemand. Ein Leben in Angst?
„Jetzt nicht mehr“, sagt N. „Ich weiß, wie ich um Hilfe rufen kann, wenn ich ihn auf der Straße treffen würde. Und meine Kinder sind jetzt auch stark genug.“ Sie wissen, dass sie nie die Türe öffnen dürfen, wenn die Mutter nicht da ist. Sie kennen die Notrufnummer. Sie haben ein Abschiebeverbot, ein bisschen Sicherheit. „Mein Leben so ist viel besser, ich gehe jetzt sogar jeden Tag raus.“
Fragmente der Lebensgeschichten fügen sich wie Puzzelteile ineinander
Und genau darum geht es, sagt Richler. Um die kleinen Schritte. Sei es die erste Busfahrt alleine oder überhaupt das erste Mal, dass die Frauen ihre Geschichte erzählen. „Die Situation mit unseren Frauen ist für mich häufig wie ein Puzzle – am Anfang hat man nur ein vages Bild und je länger wir zusammen arbeiten, desto klarer wird die Geschichte. Auch wenn nach Jahren noch Teile fehlen“, sagt Hofmann. Leicht sind diese Gespräche nicht. Wie schwer ist es für die Frauen, sich einem fremden Menschen gegenüber zu öffnen? Von brutalen Schlägen zu erzählen, von sexuellem Missbrauch, von Schmerzen und Hoffnungslosigkeit? Wie schildert man grausame Szenen auf der Flucht, wie den Kampf ums Überleben? Wohin mit der Scham? Der Angst? Den Emotionen?
„Oft sagen die Frauen: Wenn sie mit uns so in ihre Geschichte einsteigen, dann haben sie tagelang Schwierigkeiten, überhaupt mit ihrem Alltag klarzukommen und schlafen zu können“, sagt Hofmann. Wichtig sei es, zu vermitteln, da hilft mir jemand. Das geht nur über Vertrauen. Und das brauche Zeit, „dann kommt ganz viel von dem, was sie beschäftigt, Gefühle und Erinnerungen, mit denen sie nicht umgehen können“. Druck, weil das Asylverfahren schnell abgeschlossen werden soll, hilft wenig.
„Wir müssen immer wieder kämpfen, auch gegen Behörden“
Solwodi arbeitet eng mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zusammen, mit der Polizei, dem Jugendamt oder Jobcenter, den sozialen Diensten und Migrationsberatungsstellen. Die Mitarbeiterinnen kümmern sich um einen Platz in einer Schutzwohnung, psychosoziale Betreuung, Rechtsberatung, sie begleiten zu Arzt- und Anwaltsterminen und helfen bei der Arbeits- und Wohnungssuche. „Wir müssen immer wieder kämpfen, auch gegen Behörden. Wir sagen auch da, wie wir Dinge sehen, aber natürlich liegt uns vor allem an einer Zusammenarbeit“, sagt Hofmann. Generell gelte: Das politische Ende der „Willkommenskultur“ sei klar spürbar, Misstrauen stehe im Vordergrund. Zeit für Entscheidungen ist knapp. Nur: „Wir können gar nicht so schnell die fachdienstlichen Stellungnahmen abgeben, wie es gefordert ist.“ In den vergangenen Wochen sei jede Woche eine Mitarbeiterin mindestens ein- bis zweimal im Ankerzentrum in Schweinfurt gewesen, manchmal auch öfter. Aktuell „kämpfen wir mit allen Mitteln” für eine Frau, die Opfer von Menschenhändlern wurde. Ihr droht die Abschiebung zurück nach Italien und damit erneut die „Gefahr der Zwangsprostitution“.
Das Problem: „Oft reden die Frauen erst im letzten Moment, wenn sie fürchten, zurückgeschickt zu werden“, sagt Sozialpädagogin Veronika Richler. Wie sie erkennt, ob die Geschichten wahr sind und nicht nur der Angst vor Abschiebung entspringen? „Wir fragen sehr genau nach.“ Entscheidend seien oft Details, die „man nur wissen kann, wenn man es erlebt hat“. Die 25-Jährige spricht Englisch und Arabisch, hat sieben Monate in Jordanien gelebt. Das hilft. Und die Erfahrung. „Wenn eine Frau dasitzt und ohne jegliche Emotion die schlimmsten Dinge erzählt, frage ich schon am Ende nach, ob das ihr Schutzmechanismus ist“, erklärt Richler. „Sobald man danach fragt, brechen alle Dämme.“ Die Vertrauensarbeit beginnt.
Rekordzahl an Erstanfragen in diesem Jahr in Bad Kissingen
Auch wenn Hofmann und ihre Kolleginnen lange in der Sozialarbeit tätig sind, nehmen manche Geschichten und Schicksalen sie noch immer mit. Machen traurig, wütend, beschäftigen. In der Supervision können sie über Schwierigkeiten reden, im Team sich austauschen. Oder „auch einfach mal lachen“.
Knapp 100 Erstanfragen gab es allein in diesem Jahr bislang bei Solwodi in Bad Kissingen, fast täglich erreichen die Organisation mittlerweile neue Hilferufe. Eine „extreme“ Zunahme, vor allem aus dem Flüchtlingsbereich, sagt Hofmann. Bundesweit wandten sich im vergangenen Jahr 2471 Frauen aus 109 Ländern erstmals an die Hilfsorganisation. Zu den häufigsten Gründen zählten Menschenhandel und Zwangsprostitution, Asyl- und Aufenthaltsprobleme sowie Gewalt und Misshandlung in der Beziehung oder der Ehe. Wie bei Basima N.
Kleine Schritte in die Freiheit
„Für meine Kinder, meine Tochter, wünsche ich mir Freiheit. Sie soll ein Leben haben, wie die Mädchen und Frauen hier“, sagt N. Ohne Furcht und Anhängigkeit, ohne Unterdrückung. In die dritte Klasse geht das Mädchen mit den pechschwarzen kurzen Locken, ihr Bruder in die fünfte. Beide sprechen fließend Deutsch. „Wir leben hier und wir müssen die Kultur hier für uns adaptieren“, sagt N. Was den Kindern leichter fällt, kostet sie nicht selten Überwindung. Aber: „Jetzt gehe ich manchmal mit Freundinnen aus“, mit jungen Frauen aus Polen, Brasilien und Deutschland, die sie im Sprachcafé kennengelernt hat. Ein bisschen normaler Alltag.
Ihr Sohn kommt an den Esstisch gerannt. „Gestern waren wir im Safari-Park“, erzählt er Richler strahlend und tippt eifrig auf sein Handy. Löwen und Giraffen erscheinen auf dem Bildschirm, fotografiert aus einem Reisebus. „Und wir haben einen weißen Tiger gesehen.“ Mit weit aufgerissenen Augen blickt er zu der Sozialpädagogin. Die jubelt mit. Ehrliche Freude. „Man kann sagen, das war ja nur eine Busfahrt, nur ein organisierter Ausflug – aber für N. war es ein großer Fortschritt“, sagt Richler. Sie drückt N.s Hände, die lächelt stolz. Verlegen streicht sie mit den Fingern über ihr buntes Tuch. Das ist neu. Bis vor wenigen Wochen hat sie sich meist schwarz verhüllt. Jetzt liegt das Seidentuch locker auf den Schultern. Noch ein Schritt.