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Wenn sich Europa als Albtraum erweist
Die Nigerianerin Blessing Okoedion ist der Zwangsprostitution in Italien entkommen. Heute blickt sie zurück: „Ich fühlte mich wie tot. Man ist ein Produkt, das gekauft und verkauft wird.“
Foto: Julius Müller-Meiningen | Die Nigerianerin Blessing Okoedion ist der Zwangsprostitution in Italien entkommen. Heute blickt sie zurück: „Ich fühlte mich wie tot. Man ist ein Produkt, das gekauft und verkauft wird.“
Julius Müller-Meiningen
 |  aktualisiert: 14.10.2017 03:09 Uhr

Es war vor vier Jahren, als Blessing Okoedion in eine bessere Zukunft aufbrechen wollte. Sie verließ ihr Heimatland Nigeria, um in Italien in einem Computerfachgeschäft zu arbeiten. So hatten es ihr Bekannte versprochen. Als Okoedion 2013 in Europa ankam, begann stattdessen ein Albtraum für sie. Die junge Frau war in die Hände von Menschenhändlern geraten, die sie zur Prostitution zwangen. „Die Zahl der nigerianischen Mädchen auf italienischen Straßen nimmt zu“, sagt die 31-Jährige heute. „Viele von ihnen sind noch sehr jung.“

Okoedion hat im Gegensatz zu den meisten nigerianischen Zwangsprostituierten den Absprung geschafft. Aus Nigeria stammt seit einiger Zeit die größte Gruppe von Flüchtlingen, die über Libyen und das Mittelmeer Italien erreichen.

„Die Mädchen sind teilweise 13 oder 14 Jahre alt, wenn sie nach Italien kommen.“
Anna Pozzi, italienische Journalistin

Allein 11 000 nigerianische Frauen und Mädchen kamen 2016. Auch in diesem Jahr stellen die Nigerianer mit bisher 17 061 Migranten die größte Gruppe. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) landen dabei 80 Prozent der Frauen in der Zwangsprostitution.

„Die Mädchen sind teilweise 13 oder 14 Jahre alt, wenn sie nach Italien kommen“ sagt Anna Pozzi, eine italienische Journalistin, die mehrere Bücher zum Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution veröffentlicht und mit Okoedion deren Geschichte aufgeschrieben hat. „Il coraggio della liberta“ (Mut zur Freiheit) lautet der Titel der Biographie. Durchschnittlich sind unter den minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen nur sieben Prozent Mädchen. „Aus Nigeria sind in dieser Gruppe hingegen 40 Prozent weiblich“, sagt Pozzi. Von den schätzungsweise bis zu 70 000 Prostituierten in Italien stammt die Hälfte aus Nigeria. Nigerianische Prostituierte auf dem Straßenstrich am Rande der italienischen Metropolen wie Rom, Turin, Mailand oder Neapel sind ein alltäglicher Anblick.

Blessing Okoedions Albtraum begann in ihrem Heimatdorf. Eine Nachbarin erzählte, ihr Sohn suche eine Angestellte für sein Computerfachgeschäft in Italien. Okoedion war als Informatikerin ausgebildet, das Angebot schien verlockend. Als sie 2013 in Neapel ankam, wurde ihr erst einmal ein enormes Schuldenkonto präsentiert. 65 000 Euro müsse sie für Reisekosten, Visa und eine Arbeitserlaubnis zurückzahlen und dafür als Prostituierte arbeiten. „Wie komme ich hier bloß wieder weg?“, war die einzige Frage, die sich Okoedion fortan stellte.

Die Nigerianerin war wie Tausende ihrer Landsleute in die Falle der Menschenhändler getappt. Über Handlanger vor Ort kontaktieren diese vor allem Mädchen in den verarmten Dörfern Nigerias. Informationen über Flüchtlingsschicksale dringen dorthin bis heute nur mit Mühe vor. Den Frauen werden Jobs in Europa versprochen, als Putzfrau, Babysitter oder Friseuse. Mangelnde Bildung, Armut und Perspektivlosigkeit geben meist den Ausschlag für die Entscheidung, das Angebot anzunehmen. „Es ist schwer zu sagen, welches Bewusstsein die Betroffenen haben. Aber manche wissen nicht einmal, dass sie die Wüste und das Meer hinter sich lassen müssen, um nach Italien zu kommen“, sagt Pozzi.

Statt einer soliden Zukunft in Europa wartet dann die Schuldknechtschaft. Erst wenn der Schuldenberg, der zwischen 30 000 und 70 000 Euro variieren kann, abgearbeitet sei, dürften die Frauen gehen, behaupten die Menschenhändler. Viele schaffen das nie. Die kriminellen Organisationen haben ein perfides System der Unterwerfung entwickelt, indem sie zum Beispiel den Aberglauben der Landbevölkerung ausnutzen. Viele Frauen müssen einen Voodoo-Schwur ablegen und versprechen, nie davonzulaufen.

Sonst stoße ihren Familien etwas zu. Viele Zwangsprostituierte schämen sich, ihren Familien ihr Schicksal zu gestehen. Zum Funktionieren des brutalen Systems tragen auch die rege Nachfrage der Kundschaft und die niedrigen Preise bei. Zehn Euro für Sex sind keine Seltenheit.

In Italien kümmert sich eine sogenannte Madame um die Frauen, die Okoedion als „Wolf im Schafspelz“ beschreibt, weil sie sich einerseits mütterlich um die jungen Frauen kümmert, andererseits die Ausbeutung teilweise auch mit Gewalt durchsetzt. Die Madame sammelt den Verdienst ein, sorgt für Kost und Logis und ist Vermittlerin zwischen Menschenhändlern und Prostituierten. Auch Mafiaorganisationen verdienen mit. Okoedion musste für ihren Platz auf dem Straßenstrich bei Castel Volturno Miete an die neapolitanische Camorra bezahlen.

Bereits nach vier Tagen gelang ihr die Flucht. Okoedion zeigte ihre Peiniger bei der Polizei an, diese verwies sie an die „Casa Rut“, eine von katholischen Ordensschwestern betriebene Aufnahmestelle für Zwangsprostituierte bei Neapel, in der sie heute als Mediatorin und Übersetzerin arbeitet. Die meisten nigerianischen Zwangsprostituierten in Italien haben weniger Glück. „Wenn ich sie heute auf der Straße sehe, muss ich an früher zurückdenken“, sagt Blessing Okoedion. „Ich fühlte mich wie tot. Man ist ein Produkt, das gekauft und verkauft wird.“

 
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