zurück
Bad Kissingen
Einmal unter einem Stardirigenten wie Kent Nagano spielen: Unser Reporter war beim Symphonic Mob in Bad Kissingen dabei
600 Menschen spielten beim Kissinger Sommer im zweiten großen Mitmach-Orchester mit. Auch Mathias Wiedemann erlebte am Cello, worin die eigentliche Magie der Musik besteht.
Reporter Mathias Wiedemann war mit seinem Cello beim Symphonic Mob in Bad Kissingen dabei: Wie spielt es sich unter einem Weltklasse-Dirigenten?
Foto: Josef Lamber | Reporter Mathias Wiedemann war mit seinem Cello beim Symphonic Mob in Bad Kissingen dabei: Wie spielt es sich unter einem Weltklasse-Dirigenten?
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.05.2024 10:11 Uhr

Letztes Jahr habe ich mich noch nicht getraut mitzumachen, beim Symphonic Mob des Kissinger Sommers. Ja, ich habe irgendwann mal Musik studiert, bin aber seit 30 Jahren Journalist. Fast ebenso lange habe ich mein Cello nicht aus dem Kasten geholt. Keine Frage: Ich hätte 2022 keinen einzigen geraden Ton mehr zustande gebracht.

Aber die Idee, in einem Liebhaber-Orchester mitzuspielen, das von einem berühmten Dirigenten geleitet wird, ließ mich nicht mehr los. Der Symphonic Mob ist eine Erfindung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO): Profis musizieren mit Enthusiastinnen und Enthusiasten nahezu aller Alters- und Instrumentengruppen. Seit 2014 gibt es dieses Format, im vergangenen Jahr konnte man es erstmals beim Kissinger Sommer erleben, damals mit Dirigent Alain Altinoglu, dem hr-Sinfonieorchester und 300 Musikliebhaberinnen und -liebhabern.

Fotoserie

Diesmal wollte ich dabei sein. Ich hatte - auch dafür - im Herbst wieder angefangen zu spielen, das Instrument fing langsam an, sich nicht mehr wie ein Fremdkörper anzufühlen. Kaum war das Programm des Kissinger Sommers 2023 publik, meldete ich mich an. Es kam eine freundliche Bestätigungsmail, die mich nicht etwa nach dem Stand meiner Fähigkeiten befragte, sondern nach meiner T-Shirt-Größe. Das war beruhigend: Symphonic Mob ist keine Leistungsschau, sondern ein Mitmachprojekt, das von der gemeinsamen Begeisterung lebt.

Ich entsann mich eines alten Musikerwitzes: Üben hilft - leider

Die Noten gab's zum Runterladen im Netz, in der originalen und in einer vereinfachten Version. Ich entschied mich - Ehrensache! - für die Originalversion, musste dann aber ein-, zweimal schlucken: In den vier zu spielenden Stücken fanden sich einige knifflige Passagen. Ich entsann mich eines alten Musikerwitzes: Üben hilft - leider.

Kent Nagano in Bad Kissingen: 'Das ist ein sehr demokratisches A. Probieren wir es nochmal.'
Foto: Josef Lamber | Kent Nagano in Bad Kissingen: "Das ist ein sehr demokratisches A. Probieren wir es nochmal."

Am Sonntag rücke ich also an: Das Cello auf dem Rücken, in der Tasche Noten, Notenständer und - wie empfohlen - ein halbes Dutzend Wäscheklammern. Denn gespielt wird im Freien, im Kurgarten. Ohne Klammern würden die Notenblätter beim ersten Windstoß das Weite suchen. Tun sie dann gelegentlich trotzdem: Die Böe kommt immer von der Seite, an der gerade keine Wäscheklammer klemmt.

Schon der Anmarsch ein Erlebnis: Aus allen Richtungen streben Menschen mit Instrumentenkoffern herbei, die einander freundlich zunicken. Im Rossini-Saal gibt's die T-Shirts für alle. Vergangenes Jahr waren sie lila, diesmal sind sie orange.

Der Symphonic Mob in Bad Kissingen: ein Mehrgenerationen-Orchester.
Foto: Josef Lamber | Der Symphonic Mob in Bad Kissingen: ein Mehrgenerationen-Orchester.

"Sie wissen, dass das die Farbe der Holländer ist?", scherzt ein Passant angesichts des schnell wachsenden Meers in Orange im Kurgarten. 600 Menschen in Oranje-Shirts werden wir am Ende sein. Für den Symphonic Mob wird übrigens extra der Springbrunnen ausgeschaltet. Das Publikum, das schon zur Probe in dichten Reihen vor der Absperrung steht, wirkt genauso freudig erregt wie wir, die wir uns unter den Bäumen zusammenfinden. Die Cellogruppe, über 40 Personen stark, darf als einzige sitzen. Wo sollten auch 560 Klappstühle mehr herkommen?

Rettung vom Profi: Solocellist Mischa Meyer trägt zwei Instrumente in den Schatten

Vor mir sitzt eine Cellistin aus Schweinfurt, die sich als wertvolle Orientierung erweisen wird. Ihre Schwester ist aus den USA zu Besuch und hat ihr Fagott mitgebracht, nur um hier mitmachen zu können. Neben mir ein Bub mit Dreiviertel-Cello, den DSO-Mitglied Catherine Blaise unter ihre Fittiche nimmt.

Überall zwischen den Laien reihen sich die Profis vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin ein. Das ist keineswegs einschüchternd, sondern inspirierend. Und DSO-Solocellist Mischa Meyer ist sich nicht zu schade, zwei Instrumente in den Schatten zu bringen, die in der prallen Sonne lagen. 

Dann ist er da: Kent Nagano, 71, weltberühmter Dirigent, musikalischer Chef der Hamburger Staatsoper, zierlich, präsent, strahlend und wie alle im orangenen T-Shirt. Die Wärme seines Lächelns erreicht auch die, die ziemlich weit weg stehen. Als erstes lässt er sich nochmal das A vorspielen, auf das wir uns beim Stimmen geeinigt hatten. "Das ist ein sehr demokratisches A", sagt er hintergründig. "Probieren wir es nochmal."

Ein Meer in Orange im Kurgarten.
Foto: Josef Lamber | Ein Meer in Orange im Kurgarten.

So wird die Suche nach einem einheitlichen A zum ersten Gemeinschaftserlebnis. Viele weitere folgen: "Musik verbindet die Menschen", sagt Kent Nagano, der mit ganz einfachen Anweisungen große Wirkung erzielt. So will er, dass sich der Bläserakkord zu Beginn der "Halle des Bergkönigs" von Edvard Grieg anhören soll "wie ein schlechter Geruch - stinky Monster".

Zu "Nimrod" aus Elgars "Enigma Variations" erzählt der Dirigent die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Nimrod ist der mächtige Herrscher, dem die Menschen folgen - bis ihn Gottes Zorn ob seiner Selbstüberschätzung trifft. Nagano dirigiert mit ruhigem Schlag, zügiger als einst der ausschweifende Leonard Bernstein und nicht so kleinteilig wie Georg Solti. Die Musik fließt ganz natürlich. Zuhörer werden später bestätigen, dass tatsächlich etwas Großes entsteht. "Ich habe das Stück bestimmt 80 Mal dirigiert", sagt Kent Nagano. "Aber dieses Mal war wirklich einzigartig."

In den schnellen Stücken trägt es mich in paarmal aus der Kurve

Fetzig wird es in der Farandole aus der zweiten "Arlésienne"-Suite von Bizet und beim "Zigeuner"-Chor aus Verdis "Troubadour" mit der Kantorei der Kissinger Herz-Jesu-Kirche. Das Programm behält den eingeführten Titel mit dem abwertenden Z-Wort bei, aber nicht ohne Anmerkung: "Titel und gesungener Text des Chores aus Verdis Oper 'Il Trovatore' greifen rassistische, stigmatisierende und negativ stereotypisierte Fremdbezeichnungen auf ... Das DSO und der Kissinger Sommer distanzieren sich von jeglicher Form der Diskriminierung."

In den schnellen Stücken trägt es mich ein paar Mal aus der Kurve. Das ärgert mich, aber es macht nichts. Ich finde schnell wieder hinein - dank 599 Mitmusikerinnen und -musikern, die einander aushelfen, wo's geht. Und die trotz unterschiedlichster Spielniveaus etwas nahezu magisch Geschlossenes, Rundes, Harmonisches schaffen. Musik ist eben mehr als nur die perfekte Wiedergabe von Noten. Fürs nächste Jahr werde ich trotzdem noch ein bisschen härter üben.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bad Kissingen
Mathias Wiedemann
Cellistinnen
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Edvard Grieg
Kent Nagano
Kissinger Sommer
Kultur in Unterfranken
Leonard Bernstein
Staatsopern
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top
  • A. F.
    Wunderbar, vielen Dank dem Autor, dass er uns an diesem Gemeinschaftserlebnis ebenso teilhaben lässt. Gänsehautmoment...
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten