Früher war es ein Kavaliersdelikt, mal blau zu machen. Heute bleiben Kinder wesentlich häufiger dem Unterricht fern. An den Schulen muss man sich intensiv mit dem Schwänzen der Kinder auseinandersetzen und dabei die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vor Ort mit einbinden. Der Landkreis Bad Kissingen, genauer gesagt, das Jugendamt, hat sich in diesem Zusammenhang dem Projekt "Klasse Zukunft" angeschlossen, hieß es in der Sitzung des Jugendhilfe-Ausschusses am Montag.
Zahlen zum Thema Schulschwänzen gibt es kaum. Das Bayerische Innenministerium nannte immerhin für das Schuljahr 2018/19 bayernweit 2907 Schulverweigerer. Das war allerdings noch vor der Corona-Pandemie. Den Ausführungen im Jugendhilfe-Ausschuss zufolge hat sich das Problem in den vergangenen drei Schuljahren jedoch noch einmal verschärft. Das heißt, Kinder fehlen viel häufiger als früher im Unterricht.
Wenn man öfter einen Tag pro Woche fehlt
Es gibt mittlerweile für dieses Phänomen sogar einen Fachausdruck: Man spricht von Schulabsentismus. Per Definition bedeutet dies, dass ein Schüler dauerhaft einen Schultag pro Woche (20 Prozent der wöchentlichen Schultage) versäumt. Dass es dabei nicht nur ums Schwänzen aus Lustlosigkeit geht, sondern um vielschichtige Probleme, die Kinder zum Fernbleiben vom Unterricht veranlassen, erläuterte Alexander Altay, Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) im Bad Kissinger Jugendamt, in der Sitzung recht eindrucksvoll.
Es kann sein, dass einfach eine Verweigerungshaltung vorliegt oder Angst, die wiederum verschiedene Auslöser haben kann, wie beispielsweise eine soziale Phobie. Aber es können auch psychosomatische Erkrankungen diese Furcht auslösen, sagte er. Zudem gibt es offenbar Eltern, die ihre Kinder gar nicht erst in die Schule gehen lassen - aus unterschiedlichen Gründen.
Jugendamt hat hier eine Schutzfunktion
Doch welche Aufgabe kommt dem Jugendamt zu, wenn Kinder öfter dem Unterricht fernbleiben? "Grundsätzlich ist dies ein gewichtiger Anhaltspunkt für eine Kindswohlgefährdung", sagte Altay und hob hervor, dass damit für das Jugendamt die Schutzfunktion in den Vordergrund tritt. Beleuchtet man solche Fälle, müsse man erforschen, wie diese Kinder zu Hause leben, ob sie noch andere soziale Kontakte haben oder möglicherweise daheim unterrichtet werden, so Altay weiter.
Der ASD-Leiter erzählte von Eltern, die es während der Corona-Pandemie ablehnten, dass ihre Kinder im Unterricht Masken tragen, beziehungsweise den täglichen obligatorischen Corona-Test vor dem Unterricht machen. Sie ließen die Kinder dann nicht zum Unterricht kommen und unterwanderten, laut Altay, so die Schulpflicht. In einigen Fällen seien die Kinder wenigstens nachweislich zu Hause unterrichtet worden. In anderen Fällen kamen er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gar nicht an die Kinder heran. Altay: "Es wurde uns verweigert, unseren Job zu machen."
Dann schilderte Altay die Geschichte eines Jungen, der seit März 2020 nicht mehr in der Schule war, obwohl die Mutter ihn seinerzeit zum Unterricht angemeldet hatte. Zunächst habe das Schulamt mehrfach Aufforderungen an die Mutter geschickt, den Bub zur Schule zu bringen. Denn die Durchsetzung der Schulpflicht ist Aufgabe der Schulen und Verwaltungsbehörden. Doch vonseiten der Mutter sei nichts gekommen.
Die Mutter war inzwischen verzogen
Es seien auch Bußgelder angesetzt worden, denn in Artikel 35 bis 37 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes (BayEUG), beziehungsweise in Artikel 119, heißt es, dass ein Nichtbefolgen der Schulpflicht als Ordnungswidrigkeit eingestuft wird - und mit einem Bußgeld belegt werden kann. Doch diese Bescheide seien ignoriert worden.
Auch das Jugendamt habe sich mehrfach für den Schulbesuch des Jungen verwendet und zahllose Schreiben an die Mutter verschickt - ohne Erfolg. Nach Altays Angaben gab es bis heute sogar drei gerichtliche Anhörungen, zu denen die Mutter nicht erschien. Zuletzt sollte sie laut Familiengericht dann "unter Anwendung unmittelbarer Gewalt", wie das in der Gerichtssprache heißt, zur Anhörung gebracht werden. Doch sie sei nicht zu Hause gewesen und, wie sich herausstellte, mit dem Jungen offenbar woandershin verzogen, sagte Altay.
"Ich will nur zeigen, was wir für Verrenkungen machen, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen", sagte der Leiter des ASD. Ihn und seine Team treibt die Frage um, wie der Staat nun mit solchen Fällen umgehen soll: Soll die Schulpflicht mit der Brechstange umgesetzt werden oder soll sich der Staat öffnen? Im Zug der Pandemie hätten etliche Menschen gezeigt, dass sie den Staat ablehnen. Es handle sich bei diesen Eltern um eine "gewisse Klientel", mit der man laut Altay noch länger zu tun haben wird.
Das Projekt "Klasse Zukunft", dem sich das Bad Kissinger Jugendamt im September 2021 anschloss, soll in diesem Zusammenhang neue Wege eröffnen. Gestartet wurde diese Initiative 2017 von der Kinder- und Jugendpsychiatrie Schweinfurt. Die Landkreise Rhön-Grabfeld und Haßberge sind dort seit 2019 mit von der Partie, Stadt und Landkreis Schweinfurt kamen später dazu.
Mehrere Partner mit im Boot
Weitere Partner sind die Private Schule für Kranke (Schweinfurt), welche den Unterricht für diese Schülerinnen und Schüler vorübergehend übernimmt, und die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie Schweinfurt. Voraussetzung dafür, dass die "Klasse Zukunft" aktiv wird, ist allerdings, dass die Eltern damit einverstanden sind.
Ein Hauptziel bei diesem Projekt ist es, laut Altay, erst einmal, die Gründe fürs Schulschwänzen zu erkennen und die Problemlösung aktiv anzupacken – und zwar mit ambulanten Möglichkeiten. Denn das oberste Ziel sei es, eine stationäre psychiatrische Behandlung zu vermeiden. Angestrebt werde, die Fehlzeiten der Schülerinnen und Schüler zu verringern.
Nach dem Beitritt zu diesem Projekt im Herbst 2021 habe man ein paar Monate später Bilanz gezogen zur Sachlage im Landkreis. Altay sprach von 28 Fällen, in denen Kinder in der Schule öfter oder ständig absent sind. Ziel ist es, im Zusammenwirken mit den anderen Partnern in solchen Fällen "klientenbezogen" vorzugehen und entsprechende Angebote zu machen.