Es gibt ein gelbes Reclam-Heft, das, zumindest bis vor wenigen Jahren, jede Schülerin und jeder Schüler mehr oder weniger gelesen haben musste, um die Reifeprüfung zu erlangen: Theodor Storms berühmte Novelle "Der Schimmelreiter". Und so, wie am Ende des 19. Jahrhunderts noch die sagenhafte, 100 Jahre alte Geschichte des rätselhaften Deichgrafen Hauke Haien und seines spukenden Pferdes durch die Erinnerung der Bewohner hinter dem Deich geisterte, so geistert die Novelle heute noch mehr oder weniger rudimentär durch die Erinnerung der Abiturienten: Ja, da war doch was mit einem Deich, der einer Sturmflut nicht standgehalten hat, und dann hat sich der Deichgraf - ein Titel, den sich jeder gemerkt hat - mit seinem Schimmel ins Meer gestürzt. So weit so gut.
Schullektüren von einst sind nicht unbedingt die großen Zugnummern, die einen ins Theater locken, weil sich das Aroma des Quälenden in der Erinnerung gehalten hat. Trotzdem hat sich Christian Schidlowsky getraut, gerade diese Novelle, diesen "Schimmelreiter" für die Bühne des Intimen Theaters zu bearbeiten und zu inszenieren. Und er hat die große, bei ihm freilich nicht ganz unerwartbare Überraschung geschafft: Zum einen kann man - auch wenn man 54 Jahre darauf warten musste - in dieser komprimierten Form den Text in seiner enormen Vielschichtigkeit wirklich verstehen und auch in seiner Aktualität begreifen. Und er hat mit seiner Truppe aus diesem Text einen "hand- und gesichtswerklich" absolut fabelhaften, spannenden Theaterabend gemacht.
Ein Zeitsprung
Die Strukturen des Stückes sind von Anfang an klar: Da kommen die Bewohner eines Dorfes im Dorfkrug zusammen und kommen auf Hauke Haien, den sagenhaften Deichgrafen, zu sprechen - eine Szenerie, wie sie sich heute noch genauso abspielen könnte. Doch als der durch einen Spalt in der Rückwand, auftritt, ist der Schritt 100 Jahre zurück vollzogen - in eine Zeit, die durchaus real ist, aber stark geprägt von der zeitlosen Ebene des Aberglaubens. Die Konflikte, die hier ausgetragen werden, erscheinen in unverbrämter Direktheit, das Aufeinanderprallen von Aufklärung und Aberglauben, der noch eine beherrschende Rolle spielt, zwischen arm und reich im Rahmen dieser kleinen bäuerlichen Gesellschaft, Neid und Eifersucht, Zukunftsangst und Teufelsglaube, Individualität und Gruppenzwang - und über allem die drohende Gewalt der letztlich unbeherrschbaren Natur, des Meeres.
Man könnte daraus ein episches Lehrstück machen: "So geht es dem Menschen, wenn er sich mit den Naturgewalten anlegt." Aber das war schon nicht Theodor Storms Anliegen; und es ist auch nicht das von Christian Schidlowsky. Sondern es geht um durchaus allgemeine menschliche Befindlichkeiten, um Verhaltensweisen in schwierigen Situationen. Und die beginnen ja nicht erst, als die große finale Sturmflut sich ankündigt, sondern bereits viele Jahre vorher, als der junge Hauke Haien, der eigentlich schon immer das Ziel hatte, Deichgraf zu werden, sich als Knecht beim alten Deichgrafen Volkerts verdingt und damit die strengen gesellschaftlichen Regeln ins Wanken bringt - vor allem für den Großknecht Ole Peters wird er als Deichgraf- und Hochzeitsaspirant zum unerwünschten Konkurrenten. Und er wird zum Einzelgänger, nur wirklich gestützt von seiner Frau Elke, der Tochter des alten Deichgrafen. Als er im Deichbau neue Wege geht, isoliert er sich vollkommen, wird im Bunde mit dem Teufel gesehen - schon deshalb, weil der Schimmel, den er reitet, manchmal als gespenstisches Gerippe weit draußen auf Jeverssand zu sehen war - und nach Hauke Haiens Tod auch wieder zu sehen ist. Es ist eine düstere Welt, aber als Zuschauer begreift man ihre Unerbittlichkeit.
Die Gefahr ist spürbar
Umso mehr, als die Geschichte, die eigentlich in einer Gegend der unendlichen Horizonte spielt, in ein Kammerspiel für sechs Personen auf der kleinen Bühne konzentriert ist. Da ist kein Platz für große Raumentwürfe, aber Peter Picciani hat ein Bühnenbild entwickelt, das mit wenigen Mitteln - einer bühnenhohen Rückwand und einem verschiebbaren und variablen Kastenteil - schon durch die unruhige Farbgebung und eine differenzierte Lichtregie (Robert Werthmann) starke Beklemmung auslöst, das die bedrohliche Gefahr des Wassers spürbar macht. Und die durch die Musik und Geräuschkulisse (Marcus Grisse, Ingo Pfeiffer, Georg Schmiechen) auch hintergründig verstärkt wird. Und Jutta Reinhard hat mit viel Gespür Kostüme gefertigt aus einer Zeit, in der der Friesennerz noch nicht die soziale Herkunft unkenntlich machte.
Vor allem aber hat Christian Schidlowsky von seinen Schauspielern enorm viel verlangt, und das nicht nur, weil sie alle zwei Stunden auf der Bühne präsent sein und spielen müssen. Sondern auch, weil die 13 Individualrollen von sechs Leuten gespielt werden - dazu käme eigentlich noch die Statisterie, die von allen gemeinsam übernommen wird. Das bedeutet eine minutiöse Personenregie und eine enorme Konzentration der Akteure, die auf kleinstem Raum, oft nur mit einer kleinen Geste, einer anderen Miene oder einer veränderten Körperhaltung oder abgezogenen Mütze effektiv die Rolle wechseln müssen, ohne Brüche zu erzeugen. Nur Benjamin Jorns bleibt durchgehend Hauke Haien, der sich allerdings im Lauf der Zeit stark verändert in seinem Weg in die Isolation.
Aber Ingo Pfeiffer etwa ist nicht nur Haukes Vater Tede Haien, sondern auch der Oberdeichgraf und Amtmann und vor allem auch der von der Schandmähre zum Vollblutpferd hochgepäppelte Schimmel, mit dem Hauke über den Deich reitet. Susanne Pfeiffer spielt die alte Hebamme Trien Jans, die Hüterin des Aberglaubens im Dorf, aber auch den Slowaken, den Pferdehändler. Georg Schmiechen ist der eifersüchtige, machtbesessene Großknecht Ole Peters und der schmierige Dorfpastor, Anna Schindlbeck zieht als Elke, Tochter des alten Deichgrafen, raffiniert die Fäden zugunsten ihres Verlobten und dann Mannes Hauke Haien, ist aber im Dorfkrug auch die größte Widersacherin des jungen Deichgrafen. Den alten Deichgrafen spielt Marc Marchand wie auch den alten Deichgevollmächtigten Jewe Manners, der zugunsten des jungen Hauke die Berufung zum neuen Deichgrafen ausschlägt.
Friesisch sparsam
Und Marc Marchand spielt die geistig behinderte Tochter von Hauke und Elke. Das klingt ein bisschen nach Klamauk, ist es aber überhaupt nicht, weil es einfach gut und plausibel gespielt ist - lachen kann man trotzdem immer wieder. Wie überhaupt die Inszenierung in ihrer Gestik eher friesisch sparsam ist. Es sind die kleinen Gesten und die vielen Blicke, die die Aufmerksamkeit fesseln und dem Spiel Tempo geben und es zum Ende hin wirkungsvoll steigern, als das Meer sich das Land zurückholt. Da kommt dann die Entspannung im Dorfkrug, als die Geschichte zu Ende ist.
Den Hauke-Haien-Koog südlich von Dagebüll kann man besuchen. Er wurde tatsächlich eingedeicht - allerdings erst zwischen 1958 und 1960. Er wird als landwirtschaftliche Fläche und Vogelschutzgebiet genutzt.