Ein Montagnachmittag bei der Tafel in der Weißenburgstraße in Würzburg. Melina L. ist 58 Jahre alt und wartet mit vielen weiteren Menschen vor der Tür auf Einlass. Es herrscht kein Gedränge, jeder hält Abstand und alle haben eine Maske dabei. Bis zu einer Erkrankung vor zwei Jahren hat Melina L. als Intensivkrankenschwester gearbeitet. "Eigentlich wollte ich eine Umschulung machen", erzählt sie. Doch das Arbeitsamt hätte mit Blick auf ihr Alter davon abgeraten. "Ich wurde zwangsverrentet." Ihre Erwerbsminderungsrente reicht der alleinerziehenden Mutter eines Sohnes nicht zum Leben, daher ist sie auf Lebensmittel angewiesen. "Ich habe mich schon daran gewöhnt, wenig zu haben."
Für viele Bedürftige ist der Gang zur Tafel überlebenswichtig. Melina L. kommt mit den Lebensmitteln, die sie einmal in der Woche hier abholen darf, mindestens vier Tage aus. "Ich bin froh um jedes Teil, das ich nicht kaufen muss", sagt sie. In Würzburg sind heute zusätzlich Sauerkirschen, Nutella und Marmelade im Angebot, sogar ein Pizzafertigteig ist noch zu haben. "Das alles sind Dinge, über die sich mein Sohn riesig freut. Ich bin sehr froh, dass ich hierher kommen kann."
Gang zur Tafel ist mit Scham besetzt
Melina L. sieht gepflegt aus, lange graue Haare, rote Fleecejacke, ein offenes Lächeln. Doch der Gang zur Tafel ist auch mit Scham besetzt: An ihren ersten Besuch hier kann sie sich noch genau erinnern. "Das war nicht schön. Man fühlt sich ganz unten in der sozialen Hierarchie", gesteht die 58-Jährige. Heute schämt sie sich nicht mehr, denn: "Es gibt so viele Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie ich sind."
Durch die Coronakrise waren viele Tafeln zwischenzeitlich geschlossen. Der Grund war vor allem der Schutz der ehrenamtlichen Helfer, die hauptsächlich zwischen 60 und 70 Jahre alt sind und damit zur Risikogruppe gehören. "Zum anderen konnten wir die Abstandsregeln in unserem Tafelfahrzeug nicht einhalten", sagt Andreas Mensing. Seit 2016 Jahren leitet der 73-Jährige die fünf Würzburger Tafeln. Der ehemalige Ingenieur arbeitet etwa 15 Stunden in der Woche hier –ehrenamtlich, wie alle anderen Mitarbeiter auch. Insgesamt vier Wochen war die Würzburger Tafel geschlossen. "Wir haben diese Zeit mit einem Notdienst überbrückt", so Mensing.
Die Helfer der Tafeln beobachten nach einer aktuellen Umfrage des Dachverbandes eine neue Hilfsbedürftigkeit in Deutschland aufgrund der Corona-Pandemie. Gleichzeitig erreichen die Tafeln derzeit nicht alle Menschen, die sonst regelmäßig Unterstützung suchen. Die Tafeln haben sich zwar auf veränderte Bedingungen eingestellt und Ausgabestellen wieder geöffnet, allerdings sind die Angebote aufgrund der Abstandsregeln weiterhin eingeschränkt. Der Dachverband rechnet in den kommenden Wochen mit weiter steigenden Kundenzahlen. "Diese Entwicklung ist alarmierend – und sie ist erst der Anfang. Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen", sagt Mensing.
Mittwochnachmittag vor einigen Wochen bei der Tafel in Lohr (Lkr. Main-Spessart). Michael Donath, Geschäftsführer des Diakonischen Werks Lohr und Leiter der Lohrer Tafel, bespricht mit Hubert Beck, der für die Logistik verantwortlich ist, die Pläne für diese Woche. Der logistische Aufwand ist immens. "Wir planen hier genau, wann unsere Fahrer welche Lebensmittel abholen", erklärt Donath. Durch die Corona-Krise sei die Planung noch schwieriger geworden. Die Lohrer Tafel gibt es seit 15 Jahren. Insgesamt 756 Personen werden hier versorgt, 130 ehrenamtliche Helfer arbeiten mit.
Ältere Menschen bleiben aus Angst vor einer Infektion zuhause
Doch auch hier kommen von Woche zu Woche mehr Menschen erstmals zur Tafel. Sie suchen Unterstützung, weil sie selbstständig sind, in Kurzarbeit sind oder ihren Job oder Nebenjob aufgrund der Corona-Pandemie verloren haben. "Andererseits bleiben viele vor allem ältere Menschen, die sonst die Angebote der Tafeln nutzen, weiterhin zuhause, weil sie Angst vor einer Infektion haben", vermutet Donath. "Es gelingt uns momentan nicht, alle Menschen zu erreichen, die eigentlich unsere Unterstützung benötigen." Vier Wochen war die Lohrer Tafel wegen Corona geschlossen. "Dann haben wir ein Hygienekonzept vorgelegt, um Spenden geworben und konnte so alle Ausgaben mit Plexisglas verkleiden", so Donath.
"Wir haben in den letzten Wochen bei den Tafeln eine neue Form der Not erlebt. Es kommen vermehrt jüngere Menschen, die bis vor kurzem überhaupt nicht auf die Tafeln angewiesen waren und nun vor Erleichterung weinen, weil sie etwas zu essen bekommen und ihren Kühlschrank wieder füllen können", sagt Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland e.V. Auch wenn die Bundesregierung bereits schnelle und unbürokratische Hilfen auf den Weg gebracht hat, sind einige Menschen in existenzielle Not geraten, so Brühl weiter.
In Würzburg steht Sandra S. in der Warteschlange. Vor der Krise hat sie in der Gastronomie gearbeitet. Eine Festanstellung hatte sie nicht. Daher ist die alleinerziehende Mutter von drei Kindern auf Hartz IV angewiesen. "Die Auswahl an Lebensmittel ist richtig gut", sagt die 34-Jährige. "Ich bin froh, dass ich hier einkaufen kann." 160 Freiwillige arbeiten hier in den Tafeln, sortieren Waren, verteilen sie oder fahren sie aus.
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Brigitte Märtirer (72) arbeit seit fast 20 Jahren ehrenamtlich bei der Tafel in Würzburg. Sie koordiniert die Arbeit im Tafelladen. Acht Ehrenamtliche helfen normalerweise bei der Ausgabe der Waren. "Es kommen viel mehr Menschen als noch vor 20 Jahren hierher", sagt Märtirer. "Der Laden ist schon fast zu klein. Wir können oft gar nicht alle Lebensmittel auslegen." Die Kunden kennt sie fast alle persönlich. "Vor Corona haben mich manche Leute sogar umarmt", erzählt sie und strahlt. Diese Dankbarkeit sei ergreifend. Märtirer kennt auch die Vorlieben der Kunden: "Schwarzbrot ist nicht so beliebt, die meisten bevorzugen Weißbrot, gerne geschnitten."
Bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland pro Jahr vernichtet
Obwohl immer mehr Menschen die Unterstützung der Tafeln suchen, kann die Organisation im Vergleich zum Vorjahr nur unwesentlich mehr Lebensmittel retten: gut 265 000 Tonnen sind es im Jahr – das sind 500 Kilogramm in jeder Minute. Doch es könnte noch mehr sein, denn vernichtet werden in Deutschland bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr. "Es ist auch für die Mitarbeiter erschreckend zu sehen, wie viel eigentlich weggeschmissen würde", sagt Michael Donath. Den Tafeln fehlt es an Geld für mehr Kühlfahrzeuge und Lagerkapazitäten. "Und vor allem brauchen wir mehr Helferinnen und Helfer", sagt der Würzburger Tafelleiter. Fahrer werden händeringend gesucht. "Das ist ein Knochenjob", so Mensing.
Bereits Ende März hatte sich die Organisation in einem offenen Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil gewandt und mehr Hilfen für armutsbetroffene Menschen gefordert. Unter anderem setzen sich die Tafeln mit vielen weiteren Verbänden und Organisationen für eine temporäre Erhöhung der Grundsicherungsleistungen um 100 Euro monatlich ein. "Das Milliarden-Konjunkturpaket der Bundesregierung berücksichtigt über den einmaligen Kinderbonus und eine sinkende Mehrwertsteuer zwar auch arme Menschen. Die Hilfen reichen aber nicht aus und kommen zu spät", erklärt Jochen Brühl vom Dachverband der Tafeln.
"Der Staat zieht sich schon seit Jahren aus der Verantwortung bezüglich der Menschen in Armut", sagt der Lohrer Diakonie-Geschäftsführer Michael Donath, der auch Berater in der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit ist. Auch die Tafel in Lohr ist ein reines Spendenprojekt. Es gibt teilweise kommunale Zuschüsse, die jedoch nur einen kleinen Teil der Gesamtkosten decken. Armutsbetroffene Familien könnten, laut Donath, von dem Hartz-IV-Satz nicht leben, geschweige denn noch Tablets oder Laptops für das Homeschooling anschaffen. "Essen, Kleidung, Handy, Gesundheit, bei vielen reicht das Geld einfach nicht." Hier müsse die Bundesregierung nachbessern, so der Diakoniechef.