Almosenberg: Der Name dieses unscheinbaren Hügels östlich des Wertheimer Stadtteils Bettingen klingt nach Armut und Not. Doch ein Almosen braucht dort niemand mehr, im Gegenteil: Das Areal ist in den vergangenen 17 Jahren zu einer weit über die Region hinaus bekannten Einkaufsmeile geworden. Mittendrin und Anfang von allem: das Wertheim Village, früher bekannt als Factory Outlet Center (FOC) Wertheim.
Längst ist viel Wasser im nahen Main und viel Verkehr nebenan auf der Autobahn Würzburg-Frankfurt (A3) vorbeigeflossen, seit das FOC um die Jahrtausendwende ein Zankapfel höchsten Ranges gewesen war. Der Streit zog sich bis in hohe politische Ebenen zweier Bundesländer, da der einst unbebaute Almosenberg doch nur einen Steinwurf von der Landesgrenze nach Bayern entfernt liegt.
Kein Wunder, dass damals die weiß-blauen Warnrufe bis zur Regierung in Stuttgart vordrangen. Das FOC werde dem Einzelhandel in Marktheidenfeld, Lohr und gar Würzburg das Wasser abgraben, war die Klage aus dem Freistaat. Im Ländle sah man das freilich anders, so dass Stuttgart dem britischen Investor Value Retail die Stange hielt und - sehr zur Freude der Stadt Wertheim - grünes Licht für das Millionenvorhaben gab.
Und das ausgerechnet am 11. September 2001, als die schrecklichen Ereignisse in New York alles überschatteten. "Empörung in Unterfranken" titelte die Main-Post am 12. September daher auf einer der hinteren Seiten zum Thema FOC, während sich der Rest des Blattes dem Attentat auf das World Trade Center widmete. So wurde ein in der Region lange und heftig diskutiertes Projekt schlagartig zu einer Randnotiz.
Einst nur Wald und Wiese - und jetzt?
Mittlerweile ist aus dem Streitfall von damals eine Selbstverständlichkeit geworden. Wo bis vor 17 Jahren nur Wald und Wiese waren, ist heute ein pulsierendes Gewerbegebiet. Das Wertheim Village im Stile eines fränkischen Dorfes zieht nach Angaben des Betreibers Value Retail mit leicht steigender Tendenz 2,8 Millionen Gäste pro Jahr an. Die allermeisten davon - das Corona-Jahr einmal unberücksichtigt gelassen - aus dem Ausland: Südkorea, China, Russland.
Zum Teil werden sie in Bussen vor allem vom 90 Kilometer entfernten Flughafen in Frankfurt angekarrt. Kunden aus Würzburg oder Wertheim machen jeweils nur drei bis vier Prozent aus. Wie viel Umsatz auf dem Almosenberg in die Kassen fließt, verrät die britische Betreiberfirma Value Retail nicht.
So oder so, für John Quinn ist das Wertheim Village seit jeher ein Erfolgsmodell. Der Deutschland-Chef von Value Retail ist von Anfang an dabei und kann sich noch gut an den Tag erinnern, als es grünes Licht für den Bau des FOC gab: Es sei der erste Schultag seiner Tochter gewesen.
Die Welle der Kritik von damals ist für Quinn längst Schnee von gestern. Vor allem Handelsverband, Industrie- und Handelskammer (IHK) und benachbarte Kommunen auf unterfränkischer Seite befürchteten, dass das FOC in großem Maße Kaufkraft abzieht. Die Angst der Gegner von damals könne er nachvollziehen, sagt Quinn heute.
Weitere besucherstarke Firmen sind nachgezogen
Andererseits wären ohne Wertheim Village nicht so besucherstarke Firmen wie der Wohnmobile-Anbieter Hymer auf den Almosenberg nachgezogen. Heute sind dort unter anderem auch ein Fastfood-Restaurant, ein Whirlpool-Fachhandel, eine Außenstelle des Marktheidenfelder Sonnenschutz-Anbieters Warema sowie ein Fachgeschäft für Schokolade.
Dass sich der Widerstand von einst gelegt hat, ist auch die Einschätzung von Marcus Meier, Sprecher der Stadt Marktheidenfeld. Es gebe heute ein "neutrales Verhältnis" zu den Händlern im Wertheim Village. Der Einfluss auf das Gewerbe in der Stadt sei schwer einschätzbar. Zwar ziehe das künstliche Dorf vor allem in der Bekleidungsbranche Kunden aus Marktheidenfeld ab, andererseits profitiere zum Beispiel die Gastronomie in der Stadt vom FOC, das zudem ein respektabler Arbeitgeber in der Region geworden sei.
1100 Menschen arbeiten nach Angaben von Value Retail im Wertheim Village, die meisten davon in den Boutiquen. Bei solchen Zahlen ist es kein Wunder, dass auch Wertheims Oberbürgermeister Markus Herrera Torrez voll des Lobes ist. Das im November 2003 eröffnete FOC "brumme" und habe "eine ungemeine Sogwirkung entfaltet". Nicht zuletzt trage es den Namen seiner Stadt in alle Welt hinaus.
Jeder 10. Besucher kommt in die Innenstadt
Noch einen Effekt wird man im Rathaus der baden-württembergischen Stadt gerne zur Kenntnis nehmen: Etwa jeder zehnte Besucher des FOC macht einen Abstecher in die Wertheimer Innenstadt. Das hat eine Umfrage im Auftrag von Value Retail ergeben.
Trotzdem ist für Herrera Torrez der Wirbel von einst um das FOC "aus damaliger Sicht nachvollziehbar". Das Einkaufsdorf sei bundesweit "ein Novum ohne Blaupause" gewesen. Von den heute neun Factory Outlet Centern von Value Retail in Europa war Wertheim zusammen mit Ingolstadt das erste.
Kritisch will allein die IHK Würzburg-Schweinfurt bleiben. Man behalte die Entwicklung des Gewerbes auf dem Almosenberg im Auge, sagte der für Regionalentwicklung zuständige Referent Christian Seynstah. Alles, was die Innenstädte schwäche, sei nach wie vor zu verurteilen. "Wir sind aber nicht grundsätzlich auf Krawall gebürstet."