Der griechischen Sage zufolge war Ikarus einfach zu übermütig. Er flog zu nahe an die Sonne, so dass seine selbstgebauten Flügel schmolzen. Ikarus stürzte ab und starb.
Nein, vor diesem Ikarus-Effekt habe er keine Angst, sagt Jochen Engert. Der 34-Jährige verkörpert die deutsche Version des Tellerwäschers, der zum Millionär geworden ist. Engert ist Mitgründer und einer von drei Chefs von Flixbus, einem der zurzeit spektakulärsten Überflieger in der deutschen Firmenlandschaft.
Flixbus-Chef wohnt in normaler Mietwohnung
Ob Engert wirklich Millionen auf dem Konto hat, verrät er natürlich nicht. Nur so viel: Er wohne mit seiner Frau in einer normalen Mietwohnung in München. Bodenständigkeit sei ihm wichtig. Und, „dass überall in Europa Menschen mit grünen Bussen eine sehr günstige und komfortable Art des Reisens verbinden“, sagt der Mann, der im unscheinbaren Goßmannsdorf/Main in gut situierten Verhältnissen aufwuchs, dann in Stuttgart technische Betriebswirtschaftslehre studierte, zwischendrin mal Skilehrer war – und heute massiv dazu beiträgt, dass die Menschen in Europa anders reisen als noch vor drei Jahren.
Flixbus-Zentrale ist wie ein Jugendzentrum
Man muss sich weit von althergebrachter Denkweise entfernen, wie ein Unternehmen normalerweise funktioniert. Flixbus ist vielmehr ein Bienenschwarm. Die Zentrale in München gleicht einer Mischung aus Tempel voller IT-Nerds und Jugendzentrum. Kaum jemand der etwa 300 Leute hier ist älter als 40, alle sind per Du, die meisten kommen mit dem Fahrrad zur Arbeit (die Chefs meistens auch). Immer wieder hört man Unterhaltungen auf englisch. Krawatten sieht man hier nicht.
Eine Rutsche von der fünften in die vierte Etage, Tischkicker zur Ablenkung der Mitarbeiter, nach Ländern benannte Besprechungsräume – es geht so ganz anders zu als in herkömmlichen Büros.
Alles begann in einem Mini-Büro
Flixbus ist eben anders. Es begann in einem vollgestopften 12-Quadratmeter-Zimmer in einem Münchener Gründerzentrum.
Dann zogen die geistigen Väter von Flixbus – André Schwämmlein, Daniel Krauss und eben Jochen Engert – in den vergangenen drei Jahren drei Mal um, weil die Fernbus-Firma in atemberaubendem Tempo immer wieder aus den Nähten platzte.
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Nun haben Engert und Co. seit April ihr Domizil in einem neu errichteten Quartier im Münchener Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg. Fünf Etagen belegen sie in dem U-förmigen Bau, ringsherum findet man sündhaft teure Single-Neubauwohnungen und nicht minder edle Bürokomplexe. Allein ein unscheinbares Flixbus-Banner an der Fassade lässt erkennen, dass hier die Nervenbahnen eines Giganten zusammenlaufen. Vieles in den neuen Räumen ist noch improvisiert. Man hat den Eindruck: Flixbus hat sich beim Umzug selbst überholt – wie bei manch anderem auch.
Chefs sind ein Dreigestirn
Fünfter Stock. Gleich neben dem Empfang ist das Zimmer der Chefs. Kein Schnickschnack, normale Schreibtische, tragbare Computer, Handys, Kaffeetassen – was man eben so erwartet in einem Büro. Allenfalls die grünen Original-Bussitze, die zu Schreibtischstühlen umfunktioniert wurden, lassen erkennen, dass es hier um Flixbus geht.
Eine kühne Idee (2011), ein energischer Start (2013) sowie zuletzt mit Megabus und Postbus zwei mächtige Zukäufe (2016) – die Flixbus-Macher Engert, Schwämmlein und Krauss steuern Flixbus von Anfang an als Dreigestirn. Kein Wunder, dass sie nun in der neuen Firmenzentrale Seit' an Seit' sitzen. Zwischen den dreien werde es schon mal laut, erfährt man von Vertrauten. Doch bis heute hat der Pakt gehalten.
Wer für was zuständig ist
Jochen Engert ist der Mann für Marketing, Vertrieb und Finanzen. Der gebürtige Nürnberger André Schwämmlein hatte sich während seines Studiums mit „Innovativen Verkehrssystemen“ befasst und war wie Engert von 2007 bis 2011 bei der renommierten Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG). Bei Flixbus ist Schwämmlein der Mann fürs internationale Geschäft.
Der dritte im Bunde ist der gebürtige Westfale Daniel Krauss. Er studierte unter anderem an der Uni Erlangen/Nürnberg, hatte mit Schwämmlein mal ein IT-Start-up am Laufen und ist nun bei Flixbus unter anderem verantwortlich für Technik, IT und Produktmanagement.
Alles begann auf einer Skifreizeit
Als sich 2010/2011 abzeichnete, dass das Monopol der Bahn fallen und der Fernbusmarkt freigegeben werden wird, machten sich Engert und Schwämmlein erste Gedanken, wie sie in dieses Metier einsteigen könnten.
Auf einer Heimfahrt von einer Skifreizeit sei das gewesen, erinnert sich Engert. Wie sich Märkte verhalten, dass kannten die beiden, hatten sie es doch bei BCG mit internationalen Unternehmen zu tun.
Wenig später stieß Daniel Krauss dazu. Als die Idee mit dem Fernbus-System reif war, tingelte das Trio „nicht mal mit einer Powerpoint-Präsentation“ (Engert) zu diversen Busunternehmen, um sie zum Einstieg in den neuen Markt zu bewegen. Denn selbst Busse kaufen und auf die Reise schicken, das wollte das Trio von Anfang nicht. Mitte 2012 war es, als sie ein halbes Dutzend Busfirmen per schriftlicher Absichtserklärung gewonnen hatten. GoBus hieß das Jungunternehmen damals. Weil dieser Begriff bei Google allerdings ungünstig und leicht zu verwechseln war, habe man sich für den Fantasienamen Flixbus entschieden, sagt Engert.
Vieles hat sich vertausendfacht
Mit einem Dutzend Busse von Partnerunternehmen ging es dann im Februar 2013 richtig los, der Fernbusmarkt war offen. Seither hat sich die Zahl der Passagiere, Busse und Mitarbeiter zum Teil vertausendfacht, es ist ein Firmen-Oligopol entstanden.
Wohin soll das noch führen? Das Bundeskartellamt kann gegen das Quasi-Monopol von Flixbus nach eigenen Angaben nichts machen, weil unter anderem die weltweiten Umsatzerlöse des Unternehmens (noch) zu gering sind. Kein Wunder, dass die Münchener weitere Expansion ins Auge fassen. Dass Flixbus dabei die Preise nach oben treibt, das werde nicht geschehen, verspricht Engert.
Neider und Kritiker sind auch schon da
Wer so stark wächst, hat Neider und Kritiker in steigendem Maße. Bei zig-tausenden von Busfahrten jeden Tag kann nicht alles funktionieren. Und so muss sich Jochen Engert mit Klagen von Verspätungen, Pannen und nach Urin stinkenden Bustoiletten herumschlagen. Sein Team hat ihm mittlerweile untersagt, sich auf Facebook direkt mit Kunden auseinanderzusetzen, eine Social Media-Gruppe kümmert sich darum.
Ikarus? Nein, man habe alles im Griff, ist in der Flixbus-Zentrale zu hören. Und ihr Bruder sei schon in der Schule „ein Team-Leader“ gewesen, fügt Bettina Engert hinzu. Die 32-Jährige ist auch von Anfang an bei Flixbus und heute Pressesprecherin. Dass ihr Bruder auf dem richtigen Kurs bleibe, sei keine Frage: „Er hat schon immer einen gnadenlosen Optimismus.“
Fakten über Flixbus
Eineinhalb Monate nach der Öffnung des Fernbusmarktes in Deutschland begann Flixbus aus einem kleinen Münchener Büro heraus am 13. Februar 2013 mit Fahrten in Deutschland. Flixbus hat keine eigenen Busse, sondern setzt dafür heute 250 Busunternehmen ein. Diese Unternehmen sind für ihre Busse selbst verantwortlich, zum Beispiel auch für das Bekleben mit der typisch grünen Folie mit Flixbus-Emblemen.
Nach dem Start folgte für Flixbus ein explosionsartiges Wachstum: Heute beherrscht das Unternehmen 81 Prozent des deutschen Marktes, sieht sich als Nummer eins in Europa und beschäftigt mittlerweile 1000 Menschen. Flixbus zählt damit zu den expansivsten Unternehmen im Land. Heute steuern die unter anderem mit Gratis-WLAN und Toiletten bestückten Busse 900 Ziele in 20 Ländern an. Jeden Tag sind es nach Firmenangaben 100 000 Fahrten.
Über Umsatz und Gewinn macht Flixbus keine Angaben. In Medienberichten kursieren Zahlen wie 181 Millionen Euro für den Umsatz. Solche Nachrichten seien meistens falsch, teilte Flixbus-Sprecherin Bettina Engert mit.
Sie geht davon aus, dass der deutsche Flixbus-Zweig „bis Ende dieses Jahres“ schwarze Zahlen schreibt.
Struktur:
Über allem steht die FlixMobility GmbH (München, 280 Mitarbeiter) als Holding. Aufgabe: Gesamtsteuerung des Unternehmens, strategische Entscheidungen. Darunter sind Landesgesellschaften für den deutschsprachigen Raum, Frankreich, Italien, Niederlande und Osteuropa mit Büros in Berlin, Paris, Mailand, Amsterdam, Wien und Zagreb angegliedert mit zusammen 400 Beschäftigten. Hinzu kommt die FlixMobility Experience (Berlin, 300 Mitarbeiter), die sich unter anderem um Kundenbetreuung und Qualitätsmanagement kümmert.
Eigentümer:
Die Chefs und Gründer Jochen Engert (34), André Schwämmlein (34) und Daniel Krauss (32) halten über eine Vermögensgesellschaft zusammen 29 Prozent an Flixbus. Der Rest verteilt sich auf die Daimler Mobility Services, eine Vermögensgesellschaft des Holtzbrinck-Verlages, UnternehmerTUM (Gründerzentrum der Uni München), einige Business Angels (anonyme Geldgeber) sowie die US-Beteiligungsgesellschaft General Atlantic.